Chronik der Vampire 01 - Interview mit einem Vampir
I ch verstehe …«, sagte der Vampir nachdenklich und ging langsam durch dasn Zimmer zum Fenster hinüber. Dort blieb er eine Weile stehen. Seine Gestalt zeichnete sich vor dem trüben Licht ab, das von der Divisadero Street hereindrang und ab und zu durch die hellen Scheinwerfer der Autos verstärkt wurde. Der Junge konnte jetzt die Zimmereinrichtung deutlicher erkennen, den runden Eichentisch, die Stühle und ein Waschbecken, das an der Wand hing, mit einem Spiegel darüber. Er setzte seine Aktentasche auf dem Tisch ab und wartete.
»Wieviel Bänder hast du mitgebracht?« fragte der Vampir und wandte den Kopf, so daß der Junge sein Profil sehen konnte. »Genug für die Geschichte eines Lebens?«
»Bestimmt, wenn es ein gutes Leben ist. Manchmal interviewe ich drei bis vier Leute an einem Abend, wenn ich Glück habe. Aber es muß eine gute Geschichte sein. Das ist nur recht und billig, nicht wahr?«
»Bewundernswert recht und billig«, antwortete der Vampir.
»Dann will ich dir gern meine Lebensgeschichte erzählen. Ich werde es sehr gern tun.«
»Großartig«, sagte der Junge. Und er nahm schnell das kleine Tonbandgerät aus der Tasche und prüfte die Kassette und die Batterien. »Ich bin wirklich gespannt zu hören, warum Sie das glauben, warum Sie …«
»Nein«, unterbrach ihn der Vampir. »So können wir nicht beginnen. Ist dein Apparat in Ordnung?«
»Ja«, sagte der Junge.
»Dann setz dich. Ich will die Deckenbeleuchtung einschalten.«
»Ich dachte, Vampire mögen kein Licht«, sagte der Junge. »Wenn man bedenkt, daß die Dunkelheit zur Atmosphäre beiträgt…« Doch dann schwieg er. Der Vampir beobachtete ihn, den Rücken zum Fenster. Das Gesicht war jetzt nicht zu erkennen, und etwas an der ruhigen Gestalt verwirrte den Jungen. Er wollte sprechen, unterließ es jedoch. Und dann atmete er erleichtert auf, als der Vampir zum Tisch trat und nach der Lichtschnur darüber griff.
Unvermittelt war das Zimmer in grelles, gelbes Licht getaucht; und als der Junge zum Vampir aufblickte, verschlug es ihm den Atem. Er tastete mit den Händen nach hinten, um sich an der Tischkante festzuhalten. »Großer Gott!« flüsterte er, und dann starrte er den Vampir sprachlos an.
Der Vampir war ganz und gar weiß und glatt, als wäre er aus gebleichten Knochen geschnitzt, und sein Gesicht war unbewegt wie das einer Statue, die beiden leuchtendgrünen Augen ausgenommen, die den Jungen ansahen wie Flammen in einem Totenschädel. Doch dann lächelte er fast wehmütig, und in der glatten, weißen Fläche seines Gesichts zeigten sich feine Linien wie in einer Zeichnung. »Siehst du!« sagte er leise.
Den Jungen schauderte; er hob die Hand, wie um sich gegen ein übermächtiges Licht zu schützen. Seine Augen glitten langsam über den tadellos geschneiderten Rock, die langen Falten des Umhangs, die schwarze Seidenkrawatte und den glänzend weißen Kragen, der so weiß war wie das Fleisch des Vampirs. Er starrte auf das volle, schwarze Haar, das in Wellen über den Ohren zurückgekämmt war, auf die Locken, die den Rand des weißen Kragens kaum berührten. »Nun, möchtest du immer noch dein Interview?« fragte der Vampir.
Der Junge öffnete den Mund, ohne einen Ton herauszubringen. Er nickte. Dann sagte er »Ja«.
Der Vamp ir setzte sich langsam ihm gegenüber, beugte sich vor und sagte sanft, fast vertraulich: »Fürchte dich nicht. Laß nur das Band laufen.«
Und dann streckte er den Arm über den ganzen Tisch aus. Der Junge schrak zurück; der Schweiß lief ihm übers Gesicht. Der Vampir umklammerte die Schulter des Jungen und sagte: »Ich tue dir nichts, glaube mir. Ich brauche diese Gelegenheit. Sie ist für mich wichtiger, als du dir jetzt vorstellen kannst. Bitte fange nun an.« Er zog die Hand zurück und blieb gefaßt und abwartend sitzen.
Der Junge brauchte eine Weile, um sich Stirn und Mund mit dem Taschentuch zu wischen, zu stammeln, das Mikrophon sei bereit, auf den Knopf zu drücken und zu sagen, daß der Apparat lief. »Sie waren nicht immer Vampir, nicht wahr?« begann er. »Nein. Ich war ein junger Mann von fünfundzwanzig Jahren, als ich Vampir wurde, und es geschah im Jahre siebzehnhunderteinundneunzig.«
Den Jungen verblüffte das genaue Datum, und er wiederholte es, bevor er fragte: »Was ist damals passiert?«
»Darauf gibt es eine einfache Antwort. Aber ich glaube, ich möchte keine einfachen Antworten geben. Ich möchte lieber die Geschichte erzählen, so wie sie war.«
»Ja«,
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