Das Ende der Nacht: Horror-Roman (German Edition)
mitbekommen zu haben. Benommen lehnte er sich zurück und widmete sich wieder seinem Oberschenkel. Ruhig und leise sprach er mit seinem imaginären Freund.
Seit sie Christinas Haus verlassen hatten, war kein einziges Wort gefallen. Mit Kevins Aufwachen schien das Eis gebrochen und die beiden Mädchen begannen, sich über ihr Lieblingsthema zu unterhalten. Horrorfilme. Eine willkommene Ablenkung. Michelle hatte schon ihre Mühe, weiterhin wach zu bleiben und sich auf die Straße zu konzentrieren. Diese Stille machte sie träge.
Sie hatten zwei kleinere Ortschaften passieren müssen, bis sie es schließlich zu dem Ort geschafft hatten, an dem das Bankett stattgefunden hatte. Auch hier schien es wie ausgestorben. Nicht ein Auto kam ihnen entgegen, kein Mensch auf dem Gehweg. Nicht einmal ein Tier, das sich über die Straße verirrte. Michelle hielt den Wagen an einer alten Tankstelle. War es nicht so, dachte sie, dass die Angestellten dort immer wussten, wo sich welches Gebäude in ihrem Ort befand?
Die beiden Mädchen drehten sich zu Kevin um.
„Nein, Benny, das ist gemein“, sagte er lauter, „ich will nicht, dass du so etwas sagst.“
„Kevin!?“
Sie schauten auf seinen Oberschenkel.
„Benny, das ist nicht komisch“, fuhr Kevin fort, „mein Vater war kein Arschloch.“
Dann schien er zuzuhören und schüttelte schließlich den Kopf.
„Wenn du so weiter redest, bist du nicht mehr mein Freund.“
Er machte große Augen, als hätte ihn jemand angeschrien. Sie glänzten feucht.
„Hör auf, Benny!“
„Kevin!“ Christina versuchte erneut, ihn anzusprechen. Doch er war zu sehr in sein Gespräch vertieft, dass er nicht antwortete.
„Wir steigen kurz aus, um nach dem Weg zu fragen. Wir sind gleich wieder da.“
Dabei beließ sie es. Michelle öffnete die Tür und verließ den Wagen, als Christina schon ausgestiegen war. Kevin unterhielt sich immer angeregter, dass sie sich langsam Sorgen machte. Xaver hatte von seiner verletzten Seele gesprochen und diese schien nun zurück zu schlagen.
Eine einzige Zapfsäule stand überdacht vor dem kleinen Geschäft der Tankstelle. Als die beiden Mädchen sie näher betrachteten, sahen sie eine Pfütze, die sich über den Platz ausgebreitet hatte und es roch nach Benzin. Es brannte kein Licht in dem kleinen Gebäude und das Garagentor war zugezogen.
„Es ist noch zu früh“, sagte Michelle, „hier ist keiner.“
„Ja, das denke ich auch.“
Erst blickten sie sich sprachlos an, dann entdeckte Christina etwas hinter Michelle und deutete dorthin. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand sich ein kleines Lokal, dessen Schild Heiners freundliche Stube noch leuchtete.
„Sollen wir mal dahin gehen?“, fragte Christina.
„Kann nicht schaden.“
Sie überquerten die Straße und erkannten erst jetzt, dass das Lokal trotz der Lichter geschlossen war wie die Tankstelle. Die Fenster im oberen Stockwerk waren von innen mit Brettern bedeckt worden.
„Siehst du das?“
„Was ist hier los?“ fragte Christina.
„Ich weiß nicht. Lass uns ein Stück weiter fahren. Irgendwo müssen noch welche sein.“
„Verdammt“, grunzte Christina, „hast du auf der Herfahrt irgendwelche Menschen gesehen? Ich nicht. Meine Mutter meinte, alle sind tot. Hier wird niemand sein, der uns Auskunft geben kann.“
„Tini, wir wissen gar nicht...“
Plötzlich piepte es in Michelles Ohren. Zuerst dachte sie an das typische Geräusch, das sie manchmal im Kopf hörte und das zum Tinnitus mutieren konnte, wenn man begann, es ständig zu hören. Dann sah sie an Christinas Gesichtsausdruck, dass sie es ebenfalls hörte. Ein lauter, schriller Ton, fast ein Heulen, durchzuckte die Straßen, wurde lauter und verebbte schließlich.
„Was war denn das?“, fragte Christina.
„Keine Ahnung. Lass uns zum Auto zurück. Deine Mutter sagte, ein Ding hat Günther angefallen. Vielleicht ist es das.“
„Herrgott, Michelle. Das ist doch kein Horrorfilm!“
Das Heulen ertönte erneut. Diesmal schien es näher und wirkte bedrohlicher als das erste. Ohne noch etwas zu sagen, liefen die beiden zum Wagen zurück, rissen die Türen auf und sprangen in das sichere Innere. Sie schauten nach Kevin, der wieder eingeschlafen zu sein schien, dann schlossen sie die Türen.
„Fahr, Michelle, fahr irgendwohin, aber bleibe nicht hier stehen!“, forderte Christina ihre Freundin auf. Michelle startete den Motor und fuhr vom Tankstellenhof.
„Und wohin?“, fragte sie.
Ein drittes Heulen
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