Das Ende der Nacht: Horror-Roman (German Edition)
Notwehr getötet. Das nenne ich eine Situation, in der man verwirrt sein darf.“
„Vielleicht.“ Michelle wollte keinen klaren Gedanken mehr fassen, in ihr schwebten all die Dinge, die sie heute erlebt hatte, durcheinander, wie ein nicht enden wollender Film. Und Shining mischte sich hinein, dass Jack zu Steven wurde, und zu Xaver. Die Axt, das Schreien, der Tod.
Müde. Das war sie. Und sie befürchtete, nicht mehr mitzuerleben, wenn Christinas Onkel zurückkehrte, um die Mordsache in richtige Bahnen zu lenken.
„Wie wäre es mit ein bisschen Schlaf?“
Ihre Freundin schaute sie an und gähnte.
„Keine schlechte Idee. Lass uns in mein Zimmer gehen. Wenn dein Onkel kommt, werden wir es schon hören.“
Träge erhob sich Michelle von dem Sofa. Wie seltsam, dass sie keine Schmerzen mehr empfand. Sie fühlte sich verheilt an, aber als sie vorhin in den Spiegel geschaut hatte, starrte ihr die rote Wange entgegen wie ein drohendes Auge. Christina hatte den Fernseher ausgeschaltet und die Kerzen gelöscht, als das Telefon klingelte.
Verdutzt waren Michelle und Christina stehen geblieben und lauschten. Der Anrufbeantworter sprang an. Die Stimme von Christinas Vater:
„Sie sind mit dem automatischen Anrufbeantworter der Familie Baumeister verbunden. Leider ist momentan keiner von uns zu Hause. Hinterlassen Sie uns doch eine Nachricht nach dem Piep-Ton.“
Gebannt starrten die beiden Mädchen auf das Licht am Anrufbeantworter.
„Hallo Tini! Michelle! Bitte nehmt ab! Ihr müsst uns helfen!“
Christina stürzte zum Telefon und hob ab. Ihre Mutter.
„Was ist denn passiert?“, fragte sie.
„Wir müssen hier weg, Tini“, dröhnte die Stimme schrill durch den Lautsprecher. Michelle stand nicht einmal neben ihrer Freundin und konnte jedes Wort hören. So leise war es im Haus. „Dein Vater wurde angefallen von so einem Ding und ich stehe jetzt hier im Gasthof und die meisten Gäste sind tot. Wir...“
Die Leitung war tot.
„Oh mein Gott...“, flüsterte Christina. Dann starrte sie Michelle an. Fassungslos, sekundenlange Starre, als ob plötzlich die Zeit stehen geblieben war.
„Wir müssen sofort dahin!“, rief sie schließlich.
„Okay“, erwiderte Michelle, „aber wir müssen Kevin mitnehmen.“
„Kevin?“, fragte Christina irritiert.
„Der Junge, den Xaver hiergelassen hat.“
Christina nickte stumm.
Ihre Eltern hatten die Adresse aus Bönningstedt dagelassen, nur für den Fall, dass etwas los war. Und jetzt war mehr los, als sich jemand von ihnen hatte vorstellen können. Sie trugen Kevin, der noch immer schlief, auf den Rücksitz von Michelles rotem Käfer. Obwohl es schon kurz vor fünf war, blieb der Himmel dunkel wie in tiefster Nacht. Sie versuchten Xaver zu erreichen, aber auf seinem Mobiltelefon ging nur die Mailbox an. Das Gewitter war abgeklungen. Aber der Regen hielt an und verdichtete seine Tropfen so schnell wie sie wieder dünner wurden.
Kapitel Drei
Schatten
I
Sie fuhren bald auf der Landstraße 4, die hinaus nach Bönningstedt führte. In der Stadt waren ihnen die zahlreichen Menschen aufgefallen, die unterwegs waren. Sie achteten zwar auf den Verkehr, doch ihre Gesichter waren von einer Hast ergriffen. Niemand schien sich der Ruhe einer Nacht anzupassen. Michelle fragte sich, was so viele Menschen um diese frühe Uhrzeit; es war mittlerweile halb fünf; an einem Sonntagmorgen dringend zu erledigen hatten. Die meisten sahen nicht nach typischen Party- oder Kneipengängern aus. Ganz normale Menschen, von einer unbekannten Macht aus ihren Betten vertrieben.
Der Himmel färbte sich in ein helleres Blau, die Morgendämmerung würde bald beginnen. Auf der Landstraße sah sie bis zum Horizont.
„Wo sind wir?“
Kevin war aufgewacht und lehnte sich von hinten zwischen ihre Sitze. Hier, auf dieser Straße war niemand außer ihnen, als gab es eine unsichtbare Grenze zwischen der Großstadt und den Vororten. Kevins Augen wirkten verschlafen und Christina strich ihm zärtlich über die Wange.
„Meine Eltern sind in Schwierigkeiten. Wir müssen sie da raus holen“, sagte sie so ruhig, als ob sie von einem Familienausflug berichtete. Michelle war es auch ziemlich egal, was mit Christinas Eltern geschah, sie fuhr nur dorthin, weil... ja, warum eigentlich? Weil es so sein musste? Man half nun mal jemandem in der Not. Aber es war keine bewusste Entscheidung gewesen. Eher ein Überbleibsel des alten Selbst.
„Deine Eltern?“, fragte Kevin. Er schien die Erklärung gar nicht
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