Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
und fühle mich dann blöd deswegen.
»Nein«, sage ich.
»Hat sie jemals mit dir über Jungs geredet? Jungs, die sie mag, oder die sie vielleicht mögen?« Einer der Detectives setzt sich neben mich, die Matratze ist plötzlich schief.
»Nein«, sage ich noch einmal. »Nie.«
VERMISST: Eveline Marie Verver, dreizehn Jahre alt. Größe 1,55 m, Gewicht 40 kg. Haarfarbe: Dunkelbraun. Augenfarbe: grau.
Zuletzt gesehen am 28.5. auf dem Heimweg von der JFK Junior Highschool. Sie ist bekleidet mit einem gelben T-Shirt mit einem Schmetterling darauf, blauen Shorts und Turnschuhen.
Besondere Kennzeichen: Bluterguss über dem linken Auge. Kleine weiße Narbe am Oberschenkel innen.
Das hängt jetzt an allen Strommasten und in den Schaufenstern. Alles daran wirkt falsch, schon der Name.
Wenn man als Mädchen zusammen aufwächst wie wir, ist man sich körperlich so nah. Manchmal sah ich an meinem linken Bein hinunter und wunderte mich, wo der weiße Kringel geblieben war, die halbmondförmige Narbe, von einem Nagel, der sich dort hineingebohrt hatte, als Evie in der zweiten Klasse mit Dustys Fahrrad hingefallen war, Dusty hatte sie so schnell angeschoben, die Hände an Evies Rücken. Dann fiel mir ein, dass das ja gar nicht meine Narbe war, sondern Evies, obwohl ich sie manchmal mit den Fingerspitzen fast ertasten konnte, wie bei den Soldaten, über die wir in Geschichte gesprochen hatten, mit ihren Phantomgliedmaßen.
Diese körperliche Nähe, das kommt von den vielen Nächten, aneinandergekuschelt im Pfadfinder-Zelt im Garten hinterm Haus, oder davon, im Schwimmbad gemeinsam das Chlor abzuduschen, zusammen im weichen Gras neben dem Fußballfeld zu liegen, unsere Verletzungen zu vergleichen, auf dem blauen Fleck der anderen herumzudrücken. An unseren Badeanzügen zu zupfen, gespannt zu sein, wer als Erste einen BH tragen wird, obwohl Evie schon wusste, dass ich es sein würde, aber sie war diejenige, die solche Bauchkrämpfe hatte, dass sie sich krümmte und ganz weiß wurde. Manchmal fühlte ich diese Krämpfe mit. Manchmal fühlte ich die Schmerzen genauso wie sie. Ich wollte sie mit ihr fühlen.
Wir teilten alles, unsere Tennissocken und Radiergummis, unsere Zopfspangen und Winterstrumpfhosen. So nah waren wir uns. Manchmal blinzelten wir sogar im Gleichtakt.
In der zweiten oder dritten Klasse baten unsere Eltern uns ständig, Führt doch noch mal euren Tanz vor, führt doch mal euren Tanz vor. Das erste Mal war bei einer Aufführung unseres Stepp-Kurses. »Me and My Shadow«, wir beide im gleichen silbernen Gymnastikanzug, auf dem Kopf einen glänzenden Zylinder, unsere Haare in derselben undefinierbaren Farbe, die Löckchen festgesprüht von Madame Connie, unserer Lehrerin. Danach mussten wir es immer und immer wieder vortanzen, auf Geburtstagsfeiern, zu Ostern. Hundert Mal, bei den Ververs im Keller, bei uns im Wohnzimmer, in der Schule, Step-Shuffle-Back-Step, Step-Shuffle-Back-Step. Immer wieder, mit rot angemalten Wangen, bis ich fünf Zentimeter wuchs und Evies Haare dunkler wurden, und dann haben wir diesen Tanz nie wieder aufgeführt.
Aber ich wette, ich könnte ihn noch. Ich wette, ich könnte ihn hier und jetzt.
Aber so was ist einfach irgendwann zu Ende.
Und jetzt, wo Evie weg ist, geht mir auf, dass manches sich schon länger verändert hatte. Die Narbe an ihrem Bein, ich konnte sie früher richtig unter meinen Fingern spüren, als ob sie von ihrem Bein auf meins gesprungen wäre. »Vielleicht mache ich das Probespiel fürs Hockeyteam doch nicht mit«, hat Evie eines Tages gesagt, obwohl wir schon seit einem Jahr über nichts anderes geredet haben, weil wir ins Juniorteam wollen. Und dann die Freitagabende, an denen Evie auf einmal keine Lust mehr hat auf die Tischtennisturniere im Garten mit Dusty und Mr. Verver, die immer bis in die Nacht dauern, Glühwürmchen schwirren umher, und die Nacht ist etwas ganz Besonderes. Sie hat keine Lust mehr, und ich verstehe nicht, warum.
Wir sind keine sommergebräunten Kinder mit struppigen Haaren und vorstehenden Kinderzähnen mehr. Ich weiß nicht, wann das aufgehört hat, aber es hat aufgehört. In letzter Zeit sah sie manchmal nachdenklich aus, und ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Ich hatte auch irgendwas, etwas, das mir unter der Haut juckte, aber ich wusste nicht, was es zu bedeuten hat. Ich hatte das Gefühl, sie kannte ihr im Zickzack springendes Herz genau, und ich verplemperte nur meine Zeit.
»Er ist wieder dahaa …« Das sagt
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