Das Ende der Unschuld: Roman (German Edition)
sagte: »Manchmal, nachts, steht er hier draußen.«
Ihre Worte jagten mir einen Schauer über den Rücken. Ich wusste nicht, wovon sie redet.
»Du meinst deinen Vater.«
»Nein, ein anderer Mann.«
»Was für ein Mann?«, fragte ich langsam, verwirrt. »Ein Junge, einer von Dustys Jungs?«
Sie schüttelte den Kopf und sah zu ihrem Zimmerfenster hinauf. Ich drehte mich um und sah ebenfalls hinauf. Dustys Zimmer geht nach vorne raus, Evies nach hinten. Von dort, wo wir knieten, konnte man in ihr Zimmer sehen, die Dachschrägen, die Fußball-Lampe.
»Was für ein Mann, Evie?«, fragte ich noch einmal.
Und sie legte die Handfläche auf die Zigarettenstummel. »Bestimmt ist es ein Traum. Es ist irgendwie alles so durcheinander, wie im Traum.«
Sie rieb sich den Kopf und lächelte, ein albernes Lächeln mit allen Zähnen, und dann schoss ihr Arm hervor, und sie schubste mich auch, und ich kippte nach hinten, mein Kopf sank ins Gras, und Evie setzte sich auf mich und lachte, und wir lachten beide, bis Mrs. Verver nach uns rief und uns bat, Carl das Gartentor aufzumachen.
Und jetzt stehe ich hier. Und da liegen vier Zigarettenkippen, zwei platt gedrückt und zwei, die gebogen sind wie Muscheln, als könnte man sie ans Ohr halten und würde das Meer hören.
Da liegen sie.
»Hi Lizzie«, begrüßt mich Mr. Verver. Es ist der dritte Tag. Seine Augen sind rotgerändert, und er ist unrasiert, wie damals, als Dusty in die Notaufnahme musste, weil ihr Blinddarm einfach geplatzt war wie ein Luftballon.
»Hi«, sage ich. »Mom hat gesagt, Sie wollten, dass ich herkomme.«
Es fühlt sich alles sehr seltsam an, weil ich zwar mein gesamtes Leben lang zu Mr. Verver hochgeschaut habe, mich aber nicht erinnern kann, jemals ohne Evie mit ihm gesprochen zu haben, bis auf das eine Mal, als wir sieben waren und er mit uns zu einem Halloween-Jahrmarkt gegangen ist. Alle wollten ins Gruselhaus, in dem man angeblich von Geistern mit Mistgabeln durch ein Mais-Labyrinth gejagt wurde. Aus dem Lautsprecher hinter der Eingangstür dröhnten Kettenrasseln und Schreie, und ich wollte nicht hinein. Draufgängerin Dusty hatte Evie angestachelt, und die beiden gingen zusammen hinein, die Angst ins Gesicht geschrieben, während Mr. Verver mit mir draußen blieb und mir versicherte, Gruselhäuser wären sowieso nur etwas für kleine Kinder. Er kaufte mir eine Tüte Candy Corn und zeigte mir, wie man es hochwirft und mit dem Mund auffängt.
Später erzählte er Dusty, ich hätte die ganze Zeit gezittert, mich an seinem Gürtel festgeklammert, mit großen Augen und zusammengepressten Lippen. Aber das stimmte nicht. Ich hatte überhaupt keine Angst. Angst wirklich nicht.
»Lizzie«, sagt er jetzt, seine Stimme klingt angestrengt und heiser, »Evie braucht deine Hilfe. Ich brauche deine Hilfe. Wir alle. Du kannst mir alles erzählen.«
Er berührt meine Hand und sieht mir direkt in die Augen.
»Keiner kriegt Ärger. Du hast nichts angestellt. Aber vielleicht weißt du irgendwas, auch wenn es dir unwichtig vorkommt. Du hast sie …« Er beugt sich zu mir, ich sehe die Falten in seinem Hemd und merke, wie müde er ist.
»Du hast sie als Letzte gesehen. Du könntest am ehesten wissen, was passiert ist.«
Ich kann nicht so tun, als würde er mich nicht erschrecken, dieser völlig verzweifelte Ausdruck in Mr. Ververs Gesicht. So habe ich ihn noch nie gesehen. So sehen Erwachsene normalerweise nicht aus, schon gar nicht Mr. Verver, der immer so fröhlich ist, der immer von Glanz und Lächeln und Leichtigkeit umgeben scheint, der kaputte Sachen repariert – die Griffe am Fahrradlenker, Hockeyschläger, deinen Arm, wenn dich etwas gestochen hat –, als ob er alles nur berühren müsste, um es zu heilen, ohne jegliche Anstrengung. Einfach mit seinen Händen.
Und jetzt steht er vor mir, mit dieser Verzweiflung im Gesicht, und ich verstumme.
Mein Kopf ist ganz leer, und ich strenge mich an, strenge mich an.
Da ist noch irgendetwas, ein Rauchwölkchen, ganz weit hinten in meinem Kopf, aber ich komme nicht drauf.
Von oben sind stampfende Schritte zu hören, und ich weiß, das ist Dusty, denn Mrs. Verver macht keine Geräusche. Meine Mutter hat mir in vertraulichem Ton erzählt, dass Mrs. Verver sich stundenlang übergeben hat. Das Bild habe ich jetzt im Kopf. Einmal, nachdem mein Vater uns verlassen hatte, hat meine Mutter die ganze Nacht in der Küche gesessen und Rosé getrunken und sich schließlich in die Spüle übergeben. Das ist eine der
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