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Das Ende der Welt

Das Ende der Welt

Titel: Das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sara Gran
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Nähe davon. Kennen Sie den Weg?«
    »Ich besorge eine Karte«, sagte ich. »Sagen Sie mir die Adresse, dann kann ich die Route noch heute Abend planen.«
    Sie nickte und warf mir die Autoschlüssel zu. Für ihre Zeit in L.A. hatte sie einen Jaguar gemietet, der genau so aussah wie der, den sie zu Hause in New Orleans fuhr. So hielt sie es in jeder Stadt, die wir besuchten.
    An dem Abend studierte ich mehrere Karten und plante die Strecke. Ich befragte den Portier des Hotels zu geeigneten Rastplätzen und markierte die gepflegtesten Tankstellen und die besten Adressen für Dattelmilchshakes. Danach setzte ich mich in den Jaguar und fuhr in der Stadt herum, über den Sunset Boulevard bis hinauf in die Berge und dann ans Meer.
    Es war zehn Jahre her, dass Tracy von einem New Yorker U-Bahnsteig verschwunden war. Tracy, Kelly und ich wollten große Detektivinnen werden. Detektivinnen waren wir schon, aber noch keine großen, auch wenn wir uns für Teenager recht geschickt anstellten.
    Dann war Tracy verschwunden, und Kelly hatte sich in einen hässlichen Menschen verwandelt. Dass wir Tracy nicht finden konnten, hatte sie am Boden zerstört. Ich war mir sicher, dass sie New York seither nicht mehr verlassen hatte, weil sie fürchtete, auch nur einen Hinweis zu übersehen oder den entscheidenden, alles erklärenden Anruf zu verpassen. Sie hasste mich, weil ich weggezogen war. Sie hasste mich dafür, am Leben zu sein, während die klügere, bessere, hübschere Tracy verschwunden war. Ich war ganz ihrer Meinung, konnte aber nichts daran ändern.
    Am Ende des Sunset Strip hielt ich neben einer Telefonzelle. Ich warf eine Handvoll Münzen in den Apparat. Zuerst rief ich Tracy an. Sie war 1987 verschwunden, und keiner wusste, ob sie noch lebte, aber Kelly hatte dafür gesorgt, dass Tracys alte Telefonnummer nie anderweitig vergeben wurde. Ich rief die Nummer an, aber keiner hob ab.
    Ich bin hier,
sagte ich laut, vielleicht dachte ich es auch nur. Ich lebte nun schon so lange allein, dass ich den Unterschied nicht mehr bemerkte.
Ich bin hier, wo wir zusammen sein wollten.
    Tracy ging nicht ans Telefon, weil Tracy nicht mehr da war.
    Danach rief ich Kelly an. Sie hob ab und schwieg. Ich schwieg ebenfalls. Ich wusste, dass sie wusste, wer anrief, und dass sie wusste, wo ich steckte und für wen ich gerade arbeitete. Für die berühmte Constance Darling. Wie sollte es anders sein. Pfiffen die Spatzen es nicht von allen Dächern? Würde nicht Silettes Hand vom Himmel herunterfahren und mir erneut das Kainsmal aufdrücken, das Erkennungszeichen der Detektive, die Narbe der Initiation, so wie damals, als wir sein Buch lasen? War es nicht mehr als offenkundig, dass etwas passiert war, dass mein Leben einen neuen Kurs genommen hatte, endlich?
    Genialität, das lernten wir, ist belanglos. Unsere Brillanz zeigte sich in unseren Taten, aber unsere Fähigkeit, Rätsel zu lösen, half uns im Alltag nicht weiter.
    Wir schwiegen. Kellys Stille klang nach Brooklyn. Nach einer Weile legte sie auf. Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund und erinnerte mich daran, dass es nie wieder gut werden würde, selbst im besten aller Fälle.
    Ich fuhr zurück ins Hotel, um mir mit einer Nähnadel und der Tinte aus einem Kugelschreiber ein Tattoo in der Form eines vierblättrigen Kleeblatts zu stechen, auf den linken Fußrücken, wo es am meisten schmerzte.
    Am nächsten Tag kamen wir erst spät los. Constance war eine Nachteule, und vormittags bestand sie auf Kaffee, pochierten Eiern und ihrer Meditation. Während der Fahrt war sie schweigsam. Sie wirkte beinahe angespannt, und zum ersten Mal bemerkte ich feine Haarrisse in ihrer kühlen Fassade. Ich fragte sie einige Male, ob sie Rast machen wolle, aber sie verneinte. Meine umsichtig geplanten Zwischenstopps blieben Kreuze auf der Straßenkarte.
    Wir fuhren nicht ins Zentrum von Las Vegas, sondern umfuhren die Stadt in einem Bogen. Wir durchquerten ärmliche Vororte, später dann die Nobelviertel mit Villen und privaten Wohnanlagen.
    »Wir sind da«, sagte sie. »Dort steht das Haus.«
    Die geschwungene Auffahrt führte zu einem Tor in einem Zaun, der einen Garten mit hohen Palmen, dichten Sträuchern und Wüstenpflanzen umgab. Durch die Hecke erhaschte ich einen Blick auf ein weißes Herrenhaus, das aussah wie aus Zuckerwatte und Pappe zusammengeklebt. Es wirkte nagelneu, ein Fremdkörper, den man in Las Vegas abgestellt hatte. Ich hörte und sah die Büsche rascheln. Tiere versteckten sich dort,

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