Das Ende der Welt
mir leid wegen Paul«, sagte ich, »ehrlich.«
»Kann ich mit Ihnen reden?«, fragte sie.
»Klar«, sagte ich, »bitte.«
»Nein«, sagte sie und sah dabei aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Ich meinte, ich will Sie engagieren. Ich glaube, Paul wurde ermordet.«
»Ja, Paul wurde ermordet«, sagte ich. »Ich weiß ja nicht, was die Polizei Ihnen gesagt hat, aber …«
»Nein«, sagte sie noch einmal, »ich glaube, es war seine Frau, Lydia. Ich glaube, Lydia hat Paul ermordet.«
Wir setzten uns in ein Restaurant unweit von meiner Wohnung. Das Restaurant wurde von einer Sekte geführt. Die Mitglieder lieben und verehren eine Dame namens Erleuchtete Meisterin, die in Shanghai lebt. Sie predigt Güte, Veganismus und Meditation. Abgesehen davon, dass sie sich Erleuchtete Meisterin nennt, scheint sie ganz okay zu sein. Die Sekte betreibt eine vegane Restaurantkette in Asien und den Chinesenvierteln amerikanischer Großstädte und bietet ein- oder zweimal pro Woche kostenlose Meditationsanleitungen an.
Wir bekamen einen Tisch am Fenster zugewiesen, direkt an der Stockton Street. Pauls Schwester Emily saß mir steif gegenüber und starrte wortlos aus dem Fenster. Die Kellnerin kam. Ich bestellte. Ich bestellte Hühnersuppe, die aus Hühnchenersatz gekocht war. Emily zuckte zusammen, so als hätte sie vergessen, wo wir waren. Ich schlug ihr Rind mit Brokkoli vor. Sie nickte.
»Da gibt es etwas, das Sie wahrscheinlich nicht wissen«, sagte Emily, als die Kellnerin gegangen war. »Paul hat es normalerweise nicht rumerzählt. Ich weiß nicht, ob er Ihnen etwas gesagt hat.«
Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich wusste, was jetzt kommen würde.
»Wir sind reich«, sagte sie. »Kennen Sie Casablancas Candy?«
Ich nickte. Casablancas war neben Russell Stover und Mars einer der größten Süßwarenhersteller. Ich wusste, dass Paul reich war. Er hatte es mir nie gesagt, aber er bestellte in Restaurants, ohne auf den Preis zu schauen. Wenn sein Auto zur Reparatur musste, bekam er es am nächsten Tag wieder, weil er Kunde der besten Werkstatt war. Seine Schuhe waren immer neu. Vor allem aber jammerte er nie über Geld. Nur Reiche jammern nicht übers Geld, und selbst da kann man sich nicht sicher sein.
Außerdem brachte ich natürlich alles Mögliche über ihn in Erfahrung, sobald wir zusammengekommen waren, von seinem Kontostand bis hin zu seiner Hutgröße. Meine Paul-Akte war so dick, wie mein Daumen lang war. Ich wusste so gut wie alles über Emily – Einkommen des Ehemannes, Strafzettel der Tochter, die Millionenvilla in Connecticut, ihre überstrapazierte Kundenkarte von Neiman Marcus.
»Das sind wir«, fuhr sie fort, »wir sind reich. Als Paul heiraten wollte, haben unsere Anwälte ihm das Übliche geraten. Sie wissen schon, Hintergrund prüfen, Ehevertrag aufsetzen. Aber Paul hielt nichts davon. Er wollte ein ganz normales Leben führen. Er erzählte niemandem etwas von seinem Geld und warf nicht damit um sich. Und als es ans Heiraten ging, wollte er es so machen wie alle anderen. Keine Anwälte, kein Ehevertrag. Nichts.«
Das Essen kam. Emily starrte auf den Teller, als hätte sie vergessen, was Essen ist.
»Probieren Sie mal«, sagte ich, »es schmeckt besser, als es aussieht.«
Sie kostete zögerlich, so wie ein Vogel, der an einer unbekannten Speise pickt, und dann aß sie noch ein bisschen mehr. Als ihre Wangen ein bisschen rosiger waren, fragte ich: »Wie sind Sie auf Lydia gekommen?«
»Wegen des Geldes«, antwortete Emily. »Ich habe es von Anfang an gewusst. Ich meine, sie ist ein
Niemand.
« Ein Ausdruck politisch korrekter Scham zuckte über ihr Gesicht. »Nein, so habe ich das nicht gemeint …«
»Nein, natürlich nicht«, sagte ich. »Das traue ich Ihnen nicht zu. Außerdem klingt es logisch. Eine völlig nachvollziehbare Annahme.« Ich wusste nicht, was logisch oder nachvollziehbar war, aber ich wollte, dass sie weitersprach. »Ist denn etwas vorgefallen?«, fragte ich. »Etwas Bestimmtes, Konkretes, das Sie glauben lässt, Lydia könnte …«
Emily runzelte die Stirn. »Nein, nichts«, sagte sie. Offenbar hatte sie diese Frage nicht hören wollen. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, warum …«
Sie unterbrach sich. Natürlich konnte sie es sich nicht vorstellen. Ihr ganzes Leben lang hatte Emily in der Überzeugung gelebt, jedermann interessiere sich nur wegen des Geldes für sie. Lydia war mit nichts oder noch weniger zur Welt gekommen, aber sie hatte ihre
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