Das Ende des großen Fressens - · Wie die Nahrungsmittelindustrie Sie zu übermäßigem Essen verleitet - · Was Sie dagegen tun können
Millionen Menschen und damit ungefähr die Einwohnerzahl des Staates New York.
Ausbildung und Berufserfahrung hatten Flegal gelehrt, skeptisch zu bleiben. In eine komplexe, anspruchsvolle Umfrage können sich auf vielerlei Weise Fehler einschleichen, und Daten weisen oft Ungereimtheiten auf, die bei genauerem Hinsehen wieder verschwinden. Flegal wusste, dass sie exakte Informationen brauchte, bevor sie Alarm schlagen konnte.
»Wir waren wirklich superpingelig«, erzählt sie, als sie mir beschreibt, wie ihr Team die Regionalanalysen, zeitlichen Trends und Qualitätsprüfungsmaßnahmen untersuchte. [Ref 7] Aber nichts daran war ungewöhnlich. Der Befund eines abrupten Anstiegs der Anzahl übergewichtiger Amerikaner schien zu stimmen.
Dennoch blieb sie unsicher, besonders da es offenbar niemand anderem auffiel, dass die Amerikaner als Nation an Gewicht zulegten. In der Hoffnung auf Studien, die ihre Ergebnisse bestätigten, durchsuchten ihre Mitarbeiter die aktuelle Literatur, fanden aber nur wenige relevante Artikel. Bei beruflichen Zusammenkünften fragte Flegal andere Forscher nebenbei, wie es aus ihrer Sicht um das Gewicht der Amerikaner bestellt sei, und hörte meistens: »Oh, das ist wie immer.«
Die Amerikaner legten also Kilo um Kilo zu, doch die zusätzlichen
Pfunde blieben lange unsichtbar. Weder Ärzte noch Wissenschaftler oder die Regierung schienen von dem Trend Notiz zu nehmen.
Also schrieb ihr Team die Daten auf und ging damit an die Presse. Im Juli 1994 erschien die Studie im Journal of the American Medical Association . Der Artikel beschrieb, dass bei einem Vergleich gegenwärtiger und früherer Daten zum Übergewicht »in allen Bevölkerungsgruppen ein dramatischer Anstieg bei beiden Geschlechtern« zu verzeichnen sei. [Ref 8] Wenn ein angesehenes wissenschaftliches Journal den Ausdruck »dramatisch« verwendet, herrscht Alarmstufe Rot. Die Ergebnisse waren quer durch die Bank praktisch gleich: Bei Männern und Frauen, ob alt oder jung, ob schwarz oder weiß, hatte die Zahl der Übergewichtigen massiv zugenommen.
Ich rief Katherine Flegal an und bat sie, mir zu schildern, wie sich das Durchschnittsgewicht verändert hat. Ihre Kurven zeigen, dass die Menschen mit jedem Jahrzehnt dicker wurden. [Ref 9] 1960 lag das Durchschnittsgewicht der Frauen zwischen 20 und 29 noch bei 56 Kilo. Im Jahr 2000 erreichte das durchschnittliche Gewicht dieser Altersgruppe bereits 70 Kilo.
Ein ähnlicher Trend war in der Gruppe der 40- bis 49-Jährigen zu beobachten, in der das Durchschnittsgewicht zwischen 1960 und 2000 von knapp 60 auf 71,5 Kilo anstieg.
Auffällig war auch, dass wir bereits zu Beginn unseres Erwachsenenlebens deutlich schwerer sind als früher. Die Gewichtszunahme findet demnach in Kindheit und Jugend statt. [Ref 10] Und zwischen 20 und 40 legen viele weiter zu. Dabei sammeln sich beim Durchschnittsmann nicht mehr nur ein paar Pfund, sondern rund fünf Kilo an.
Flegal machte eine weitere Beobachtung: Auch wenn im
Durchschnitt alle schwerer wurden, nahmen die schwersten Menschen überproportional stärker zu als die übrigen. [Ref 11] Die Kluft zwischen dem oberen und dem unteren Ende der Gewichtskurve wurde breiter. Beim Thema Übergewicht ging es in erster Linie darum, dass die Dicken noch mehr Gewicht auf die Waage brachten.
Auch in Europa verläuft die Entwicklung ähnlich, wenn auch nicht ganz so dramatisch. In den letzten 30 Jahren hat sich die Anzahl der Betroffenen in Europa verdreifacht und steigt weiterhin in alarmierendem Tempo an, besonders bei Kindern.
Deutschland nimmt dabei mit den meisten übergewichtigen bis fettsüchtigen Bürgern den Spitzenplatz ein. Seit Ende der 90er-Jahre hat sich die Anzahl der Deutschen, die zu viel auf die Waage bringen, nahezu verdoppelt. Schätzungen zufolge entfallen sieben Prozent der gesamten Gesundheitskosten in der Europäischen Union auf die Behandlung übergewichtsbedingter Erkrankungen.
Natürlich sind Nahrungsmittel seit den 70er- und 80er-Jahren leichter verfügbar. Die Portionen sind größer, überall trifft man auf Fastfood-Ketten, es gibt mehr Schnellimbisse, und wir essen seltener zu Hause. Aber dass Nahrung überall und jederzeit bereitsteht, bedeutet doch nicht, dass wir sie essen müssen. Warum schlagen wir uns so den Bauch voll?
Im Gegensatz zu früher haben wir nicht mehr zu befürchten, dass Nahrungsmittel knapp werden können. In der Bibel folgen auf sieben satte Jahre unweigerlich sieben Hungerjahre, für die wir uns mit
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