Weil du mich siehst
Verlorene Momente
Paula sah sie vor sich, zwei der ihr wichtigsten Menschen auf der Welt – ihren Mann Max und ihr Töchterchen Louisa. Sie sah sie immer wieder vor sich.
Sehen war etwas, das jetzt für Paula eine andere Bedeutung hatte.
Der Unfall hatte ihr alles genommen. Den Traum vom Glück, die Liebe, die sie nach langer Zeit des Suchens endlich gefunden zu haben glaubte. Wie hätte sie ahnen können, dass ihr nur so kurze Zeit mit ihr gegeben war?
Nichts wollte klappen an diesem Montagmorgen, wie so oft.
Nicht verzweifeln , sagte sie sich, du wirst es schon schaffen.
Wieder versuchte sie, die Küchentheke abzuwischen, ohne dabei alles umzuschmeißen. Diese Dinge vermied sie oft, wollte sich der Qual nicht aussetzen, sich wie eine Versagerin zu fühlen, die die einfachsten Handgriffe nicht auf die Reihe bekam. Nicht selten verzweifelte Paula fast an dem Versuch, sich etwas zu kochen, sich zu schminken, staubzusaugen. Sie hätte liebend gern auf all dies verzichtet, hätte sich am liebsten einfach in eine Ecke verkrochen und den ganzen Tag lang Hörbücher gehört und sich von Tütenchips und Puddings ernährt, aber die Wahrheit war, dass das keinen guten Eindruck hinterließ.
Wenn sie also Damian zurückhaben wollte, musste sie sich zusammenreißen.
Heute Mittag stand wieder ein Besuch der Sozialarbeiterin an. Paula konnte sie gut leiden, sie war jemand, der nicht nur Mitgefühl zeigte, sie war jemand, der an sie glaubte und daran, dass sie es schaffen konnte.
Frau Ludwig kam einmal die Woche vorbei und guckte, wie die Dinge standen. Paula wusste, dass alles auf sie ankam. Sollte sie sie enttäuschen, würde sie Damian enttäuschen.
Sie ging noch einmal in ihr Schlafzimmer – die kleine Wohnung bestand nur aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Bad und Küche – und stellte sich vor den großen Spiegel. Sie konnte sich sehen , wie sie in ihrem grünen Pullover dastand. Sie trug ihre alte Lieblingsjeans, in der fühlte sie sich wohl.
Paula fasste mit einer Hand an den Spiegel und fragte sich, wie sie jetzt wohl wirklich aussah.
Sie wusste, sie hatte Narben im Gesicht, sie konnte sie fühlen, obwohl sie im Gegensatz zu denen in ihrem Herzen gut verheilt waren. Vielleicht war es besser, dass sie sie nicht sehen konnte, sie hätten sie nur jedes Mal aufs Neue an den Unfall erinnert.
Du wirst jetzt nicht darüber nachdenken , befahl sie sich, nicht jetzt!
Frau Ludwig sollte sie nicht tränenverschmiert vorfinden. Außerdem hatte sie sich solche Mühe gegeben, heute Morgen den Lidschatten aufzulegen. Kathi hatte ihn für sie besorgt, ein helles Braun, das gut zu ihrem dunkelbraunen Haar passte, und sie benutzte ihn sehr sparsam, genau wie den hellrosa Lippenstift und das Rouge. Sie war froh, dass sie ihrer besten Freundin vertrauen konnte. Schlimm, sich auszumalen, was wäre, wenn sich jemand einen Spaß mit ihr erlauben würde und ihr statt dezenten Farben Mitternachtsblau und Knallpink besorgt hätte. Sie würde es nicht wissen, es vielleicht an dem Getuschel und Gelächter der Leute erahnen.
Seit sie blind war, hörte sie mehr, nahm jedes noch so kleine Geräusch, jedes geflüsterte Wort wahr. Seit sie blind war, war sie verflucht, Dinge zu hören, die sie manchmal lieber nicht gehört hätte.
Sie holte ihr Handy aus der Hosentasche. Frau Ludwig hatte es ihr so eingerichtet, dass es mit ihr sprach. »Es ist elf Uhr neununddreißig«, sagte es ihr nun. Noch eine gute Viertelstunde.
Sie ging zum Schlafzimmerfenster und öffnete es, ein bisschen Frischluft konnte nicht verkehrt sein. Dann erfühlte sie die kleine Kommode neben dem Bett, ertastete die Parfümflasche und sprühte. Super, es war mal wieder in die falsche Richtung gegangen und hatte statt ihren Hals die Wand besprüht. Es war nur eine Lappalie, an die sich Paula inzwischen gewöhnt haben sollte, trotzdem war sie den Tränen nahe.
Der Gedanke an Damian ließ sie sich zusammenreißen. Tief Luft holen, tief Luft holen …
Es klingelte an der Tür.
Paula machte sich auf den Weg, langsam, behutsam. Es standen keine Dinge im Weg, über die sie hätte stolpern können, das wusste sie, dafür hatte man gesorgt, als man ihr diese Wohnung spärlich eingerichtet hatte, und doch hatte sie bei jedem Schritt, den sie tat, Angst zu stolpern.
Sie war an der Tür angelangt und fragte: »Wer ist da?«
»Paula, hier ist Frau Ludwig!«, kam von draußen.
Als Frau
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