Das Erbe der Carringtons
1. Magi e
Es
war bereits dunkel. Nur der sanfte Schein der Straßenlaternen erhellte den
Bürgersteig ein wenig. Ein leichter Wind wehte. Sarah Lewis zog ihre Jacke
enger, um sich warm zu halten. Mit jedem Schritt schien es jedoch kälter zu
werden. Oder war es gar nicht die Kälte, die sie beunruhigte? Sie war sich
nicht mehr sicher. Vielleicht hätte sie nicht allein nach Hause gehen sollen?
Es waren nur fünfzehn Minuten zu Fuß von der Party, auf der sie gewesen war,
bis zu ihrem Studentenwohnheim. Jetzt kam es ihr sehr weit vor.
Verunsichert
sah sie sich um. Nichts. Nur Dunkelheit. Sie war allein. Langsam ging sie
weiter, lauschte angespannt. Da war doch etwas. Hinter ihr. Abrupt blieb sie
stehen. Schritte verhallten. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Eine Gänsehaut
ließ sie erschauern. Hastig suchte sie die nächtliche Straße ab. Nichts.
Bildete sie sich das alles ein? Vermutlich. Sie seufzte über sich. Dennoch ging
sie schneller. Das unangenehme Gefühl wollte nicht von ihr ablassen.
Plötzlich
hörte sie ein Knacken. Direkt hinter ihr. Leise nur. Für sie klang es laut wie
ein Pistolenschuss. Erschrocken wirbelte sie herum und starrte in das von Dreck
verschmierte Gesicht eines Mannes. Unter seiner Kapuze konnte sie nur einen
grimmigen Mund erkennen. Ihr Herz fing an, laut zu schlagen. Blitzschnell griff
er nach ihrer Tasche. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Wäre sie nicht so
überrascht gewesen, hätte Sarah ihm die Tasche aus Angst überlassen.
Stattdessen klammerte sie sich mit aller Kraft daran fest.
„Gib
her, Göre“, rief der Mann und zog fester. Sarah konnte seinen nach Alkohol
stinkenden Atem riechen.
Als
sie immer noch nicht losließ, zog er ein Messer. Starr vor Angst, verfolgte sie
die blitzende Klinge, die in rasender Geschwindigkeit näher kam. Sie kniff die
Augen zu, ließ die Tasche los und betete, dass er sie nun in Ruhe ließ.
Abgesehen von einem leichten Ziehen in ihrem Magen passierte nichts. Sie
blinzelte zaghaft und sah sich um. Der Mann war verschwunden, die Gefahr
gebannt.
Mit
hämmerndem Herzen atmete Sarah tief ein und aus, bevor sie ihre Umgebung
genauer wahrnahm. Verwirrt drehte sie sich einmal um ihre Achse. Der Raum wurde
nur notdürftig von einer Straßenlampe durch das Fenster beleuchtet, dennoch
erkannte Sarah, dass sie in ihrem Zimmer war. Das Ziehen in ihrem Magen fiel
ihr wieder ein. Als sie es gefühlt hatte, war ihr nicht klar geworden, was es
bedeutete. Sie hatte sich unbewusst in Sicherheit gebracht. Erleichtert atmete
sie auf, schaltete das Licht ein und setzte sich auf ihr Bett.
Das
Gesicht in den Händen vergraben, saß sie für einige Minuten still. Es war
wieder geschehen. Seit Monaten passierten ihr bereits seltsame Dinge. Sarah
konnte sich die Ereignisse nicht erklären und hatte sich immer gewünscht, sie
würden aufhören. Diesmal war sie jedoch froh darüber. Der Mann hätte auf sie
einstechen und sie töten können, wenn sie nicht wieder auf mysteriöse Weise von
einem Ort verschwunden und an einem anderen aufgetaucht wäre.
Es
hatte kurz nach dem Tod ihrer Mutter begonnen, vor etwas über einem Jahr. Sarah
erinnerte sich noch genau und konnte es beinahe vor ihren Augen sehen. Es
war ein kalter, verregneter Tag und der Bus hatte - wie üblich - Verspätung.
Eine Gruppe von Mitschülern tuschelte ein paar Meter entfernt. Ihren
verstohlenen Blicken zufolge, ging es wahrscheinlich um den Tod von Sarahs
Mutter. Es war die Sensation in Tohosé, dem kleinen Ort, in dem Sarah aufwuchs.
Noch nie hatte es dort einen Raubmord gegeben. Viele schienen geradezu erpicht
auf blutige Geschichten zu sein und zerrissen sich die Mäuler. Sarah hasste es,
zusätzlich zu ihrem Verlust, auch noch im Mittelpunkt zu stehen. Sie wollte
einfach nur in Ruhe gelassen werden. Zum Glück wurden ihre Mitschüler mit einem
Auto abgeholt, bevor sie dumme Fragen stellen konnten. Der Bus kam allerdings
immer noch nicht, und Sarah sah ihre neugierige Nachbarin von Weitem kommen. In
diesem Moment wünschte sie sich nichts mehr, als endlich zu Hause zu sein und
sich in ihrem Bett verkriechen zu können. In der nächsten Sekunde stand sie in
ihrem Zimmer.
Vorfälle
wie diesen gab es im Verlauf der folgenden Monate mehrere. So sehr Sarah auch
versuchte, nicht darüber nachzudenken oder sich einzureden, dass es eine
plausible Erklärung gab, sie glaubte es nicht mehr. Einen Blackout zu haben
oder sich in Gedanken zu verlieren, sodass die Zeit an einem
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