Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
unergründlichen Schattengefilden der Felis trennte, war der Pilan ein seichtes Gewässer, das die Hedero durch seinen Fischreichtum ernährte.
Hierhin zogen die Männer Morgen für Morgen, um in einem ausgehöhlten Baumstamm auf Fischfang zu gehen, während die Frauen ihnen in respektvollem Abstand folgten und in schweren Tonkrügen Wasser holten.
Yenu hielt kurz inne, um ihr schmerzendes Fußgelenk im Wasser zu kühlen, und ließ den Blick über den dunklen, trägen Fluss schweifen, auf dessen Oberfläche kleine Mondlichtfunken tanzten.
Der Pilan wirkte friedlich in dieser Nacht, aber der Schein trog. Ganze Schwärme von gefräßigen Querlas lauerten in dem üppig wachsenden Grün der breiten Uferzone auf ihre Opfer: Menschen oder Tiere, die den Weg durch den Fluss nahmen oder ungewollt hineingerieten. Schon eine leichte Bewegung genügte, um sie aus ihren Verstecken zu locken und das Schicksal des Opfers zu besiegeln.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie ein junger Tarpan ins Wasser gelaufen war. Das gutmütige Packtier war von einer Schlange gebissen worden und außer sich vor Furcht und Schmerz gewesen. Niemand hatte es aufhalten können. Als es bis zum Bauch im Fluss gestanden hatte, hatten sich die gefräßigen Raubfische zu Hunderten auf das arme Tier gestürzt und das Wasser rings um ihr Opfer in eine blutig schäumende Gischt verwandelt, bis nur noch bleiche Knochen am Grund des Flusses von dem grausigen Mahl gezeugt hatten Yenu verscheuchte die Erinnerung an den schrecklichen Anblick und lief weiter. Fünfzig Schritte entfernt spannte sich in doppelter Mannshöhe eine schmale Hängebrücke über den Fluss. Ein dickes Seil aus ineinander verflochtenen Ranken war der einzige Weg hinüber. Yenu kletterte hinauf, zögerte jedoch, das schwankende Flechtwerk zu betreten. Es war das erste Mal, dass sie den Pilan zu überqueren versuchte. Nur den Jägern der Hedero und den Auserwählten, so lautete das ungeschriebene Gesetz, war es gestattet, zum jenseitigen Ufer zu gehen. Wer das Gesetz missachtete, wurde unerbittlich bestraft. Doch der Punkt, an dem sie dies von ihrem Vorhaben hätte abhalten können, war längst überschritten. Sie hatte schon viel zu viel Zeit verloren, und die Sorge trieb sie voran.
Yenu passierte die Brücke, ohne auch nur einmal nach unten zu sehen. Als sie das Seil auf der anderen Seite hinabglitt und wieder festen Boden unter den Füßen spürte, beschleunigte sie die Schritte. Ohne auf das dumpfe Pochen zu achten, das im Takt ihres Herzschlags durch den verletzten Knöchel hämmerte, folgte sie dem schmalen Pfad von der Brücke fort in den Wald.
Wenige Schritte vom Fluss entfernt standen die Bäume so dicht, dass das Mondlicht in den mächtigen Kronen nur wenige Schlupflöcher fand. Hier war der Pfad kaum breiter als ihr Fuß. Endlos schlängelte er sich durch das üppig wuchernde Unterholz, sodass sie Mühe hatte, ihm zu folgen. Bald hatte sie nicht nur die Orientierung, sondern auch jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wusste nicht, wie weit sie schon in den Dschungel vorgedrungen war oder wie weit sie noch gehen musste.
Die Furcht, vom Weg abzukommen, saß ihr wie ein Djakûn im Nacken, und sie flehte die Götter um Beistand an, dass sie sie leiteten, während sie sich in der Dunkelheit vorsichtig weiter vorantastete.
Der Ruf des Nachtaras begleitete sie. Die melodische Tonfolge hatte sich nicht verändert, doch Yenu konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er sie verspottete.
Der Vogel schien jetzt ganz nah. Manchmal glaubte sie seinen Flügelschlag in den Baumkronen zu hören. Bei den Hedero galt er als Unheilsbringer, dennoch empfand sie seine Nähe nicht als Bedrohung. Im finsteren Dickicht des unbekannten Dschungels hatte seine Gegenwart eher etwas Tröstliches, und bald schon ertappte sie sich dabei, dass sie auf seinen nächsten Ruf wartete, wie um sich zu vergewissern, dass sie nicht allein war.
»Du törichte Tarpan-Stute«, schalt sie sich selbst und erschrak, weil ihre Worte überraschend laut durch die Stille hallten. Abrupt hielt sie inne und lauschte mit angehaltenem Atem. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, während ihre Hand den Schaft des kurzen Feuersteinmessers umklammerte, das die Frauen der Hedero stets bei sich trugen.
Die Berichte der Männer, die auf der anderen Seite des Flusses jagten, kamen ihr in den Sinn und schürten in ihr die tief verwurzelte Furcht der Hedero vor den nächtlichen Jägern des Dschungels. Sie wäre nicht die Erste ihres
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