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Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin

Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin

Titel: Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Felten
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Aufgewühltheit, die sich auf Horus übertrug. Es war seine Schuld, dass der Falke litt.
    Beschämt bemühte er sich, gleichmäßiger zu atmen und die heftigen Gefühle, die seine Gedanken begleiteten, zu mäßigen. Der Versuch scheiterte kläglich. Seine Welt, sein ganzes Leben lag in Scherben. Niemals zuvor hatte er sich so leer und ausgebrannt gefühlt wie in diesem Augenblick.
    »Es tut mir Leid, Horus«, sagte er mit gedämpfter Stimme, um den gefiederten Gefährten nicht noch mehr zu erschrecken. »Ich wünschte, ich könnte uns diese Pein ersparen. Aber ich habe gerade einen Menschen verloren, der mir sehr viel bedeutet hat.« Er seufzte tief, und als er weitersprach, klang es fast, als rede er mit sich selbst: »Der Ulvars trägt neue Blätter, weißt du? Ajana wird gehen. Bald. Sie hat nie auch nur einen Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie heimkehren wird. Ich weiß, dass sie große Sehnsucht nach ihrer Familie hat, aber ich weiß auch, wie schwer ihr es fällt, zu gehen.
    Als ich das Blatt des Ulvars in der Schatulle gesehen habe, wurde mir klar, dass ich sie freigeben muss – auch wenn mir mein Herz etwas anderes sagt.
    Ajana ist die Einzige, die mir je etwas bedeutet hat, aber es soll nicht sein, dass sie bei mir bleibt. Ich möchte nicht, dass sie leidet, wenn sie geht – verstehst du? Deshalb habe ich zerstört, was uns verband. Ich hasse mich dafür, dass ich sie so verletzt habe, und wünsche mir nichts sehnlicher, als es ungeschehen zu machen. Aber ich weiß auch, dass ich letzten Endes richtig gehandelt habe. Der Bruch ist endgültig. Sie ist frei.«
    Keelin lehnte den Kopf an die Wand, hob das Kinn und schloss die Augen. Das Reden hatte ihm gut getan. Und es hatte Horus gut getan. Es fühlte, wie sich der Herzschlag des Falken verlangsamte, spürte das weiche Gefieder an seiner Wange, als Horus den Kopf zärtlich daran rieb, und hatte Teil daran, wie sich die Unruhe in der verstörten Vogelseele legte.
    Horus war beruhigt – er war es noch lange nicht.
     
     

    ***
     
    Es dauert lange, bis Ajana an diesem Abend Ruhe fand.
    Zusammengekauert wie ein verwundetes Tier, lag sie auf ihrem Bett, dachte an Keelin und an das, was er zu ihr gesagt hatte. Sie fühlte sich so einsam und hilflos wie niemals zuvor, aber es gab niemanden, dem sie sich in ihrem Unglück anvertrauen mochte.
    Am Ende weinte sie sich in den Schlaf.
    In dieser Nacht träumte sie, wie schon so oft, von zu Hause. Diesmal waren es jedoch nicht die Bilder der Vergangenheit, die ihr der Schlaf in Erinnerung rief; es waren neue, verwirrende Bilder. Der Traum warf sie mitten hinein in eine Szene in der Küche ihres Elternhauses …
    Ihre Mutter saß am Tisch. Vor ihr stand eine Flasche. Das Glas daneben war halb leer getrunken. Sie hatte den Kopf auf beide Hände gestützt und starrte mit stumpfem Blick auf einen vergilbten Zeitungsartikel. In den Fingern hielt sie eine Zigarette – offensichtlich nicht die erste. Blauer Dunst hing im Raum, und der Aschenbecher auf dem Tisch quoll über von Zigarettenkippen.
    Was hatte das zu bedeuten?
    Ajana war entsetzt. Ihre Mutter schien um Jahre gealtert. Dabei hatte sie nie geraucht, Alkohol nie angerührt. Ihre Kleidung wirkte vernachlässigt, das stets so gepflegte aschblonde Haar hing ihr wirr und ungepflegt ins blasse Gesicht. Es schien, als sei sie in Gedanken weit fort, müde von durchwachten Nächten und verbittert von einem Kummer, für den es keinen Trost zugeben schien.
    »Laura?« Ajanas Vater kam in die Küche. Auch er hatte sich verändert. Das lichte dunkle Haar auf der hohen Stirn war von grauen Strähnen durchzogen, das Gesicht von Sorgen gezeichnet. Dennoch wirkte er gefasst. Er ging auf den Tisch zu und legte seiner Frau die Hand sanft an der Schulter. »Laura?«
    Laura Evans rührte sich nicht. Wortlos starrte sie auf die Tür zum Klavierzimmer, als könne sie dort etwas sehen, das ihrem Mann verborgen blieb.
    »Laura!« Seine Finger schlossen sich fester um ihre Schulter. »Laura, es ist schon weit nach Mitternacht. Du solltest versuchen, ein wenig zu schlafen.« Ajana sah, wie er ihr eine Packung Tabletten zuschob. »Hier! Nimm eine davon«, ermunterte er sie. »Und geh zu Bett.«
    Sie beachtete ihn nicht. Ungerührt zündete sie sich eine neue Zigarette an.
    »Du rauchst zu viel!« Mitleid und Resignation schwangen in seiner Stimme mit. »Und du trinkst zu viel.«
    »Und wenn schon.« Laura Evans verzog das Gesicht. »Besser Zigaretten als dieses … dieses Giftzeug.«

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