Das Erbe der Runen 03 - Die Schattenweberin
Jungen zu und schenkte ihm ein Lächeln. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnen können, von allen wie eine Fürstin behandelt zu werden. Und obwohl sie sich hin und wieder dabei ertappte, die Annehmlichkeiten und Vorzüge zu genießen, die ein solches Leben mit sich brachte, war sie doch stets aufs Neue peinlich berührt, wenn sich die Menschen ihr gegenüber scheu und demütig verhielten.
Der Junge starrte sie verzückt an und rührte sich nicht von der Stelle. Erst nach einigen Herzschlägen schien ihm sein ungebührliches Verhalten bewusst zu werden. Errötend drehte er sich um und eilte davon.
»Da siehst du es.« Keelin schmunzelte, wurde dann aber übergangslos wieder ernst und fügte voller Wärme hinzu: »Nicht nur ich – alle hier lieben dich.«
»Sie sehen in mir die Friedensbringerin. Eine Erlöserin mit magischen Fähigkeiten. Sie achten und verehren mich, weil Gaelithils Blut in meinen Adern fließt. Aber lieben …?« Ajana schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Dafür kennen sie mich doch viel zu wenig. Im Grunde kennen sie mich gar nicht, nur die Mythen, die um mich gewoben wurden. Wer weiß? Vielleicht ängstigen sie sich sogar vor mir und sind nur deshalb so freundlich, weil sie meinen Zorn fürchten.«
»So darfst du nicht denken!« Keelin ergriff Ajanas kühle Hände. »Du hast Nymath vor dem Untergang bewahrt und uns den Frieden gebracht. Und mehr noch: Dir ist etwas gelungen, das weit über dein Erbe hinausgeht. Du hast Menschen und Uzoma vereint. Kruin sitzt als einer der Abgesandten seines Volkes dem Hohen Rat bei und verhandelt auf Augenhöhe mit den Ratsmitgliedern über die gemeinsame Zukunft beider Völker. Ich bin sicher, dass sie einen Weg für einen dauerhaften Frieden finden werden. All das haben wir allein dir zu verdanken. Noch im vergangenen Herbst wäre es undenkbar gewesen.«
»Das ändert aber nichts daran, dass ich für die Menschen in Nymath immer eine Fremde bleiben werde.« Ajana löste die Hände aus Keelins Griff und sah ihn an. »Ich gehöre nicht hierher!«, sagte sie mit einem Anflug von Trauer in der Stimme. »Auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte.« Sie machte ein paar Schritte auf das Haupthaus zu, wandte sich dann aber noch einmal zu Keelin um. »Nun komm«, ermunterte sie ihn. »Inahwen erwartet uns.«
Wenig später standen die beiden vor der schweren Tür aus dunklem Purkaholz, die zu den Gemächern der Elbin führte.
Keelin hob die Hand und klopfte.
»Ajana, Keelin, kommt herein!« Ein Lächeln huschte über Inahwens Gesicht, als sie einen der beiden Türflügel öffnete. »Wo seid ihr gewesen? Ich habe Boten geschickt, aber sie konnten euch nicht finden.«
»Wir sind ausgeritten«, entschuldigte sich Ajana errötend, während sie auf den Kamin zuging. Die Flammen des Feuers sprangen munter knisternd in die Höhe und verbreiteten eine heimelige Wärme, die ihr nach dem unbehaglichen Ausritt mehr als willkommen war.
»Ausgeritten?« Inahwen zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe. »Bei dem Wetter? Das sieht man euch gar nicht an.«
»Wir hatten Schutz.« Keelin warf Inahwen einen viel sagenden Blick zu. »Ihr wart Ajana eine hervorragende Lehrerin.«
»Algiz! Du hast die Schutzrune verwendet, um euch vor dem Regen abzuschirmen.« Inahwen nickte Ajana anerkennend zu. »Ich hätte es wissen müssen.«
»Wie Keelin schon sagte, Ihr habt mich viel gelehrt.« Ajana grinste verschmitzt.
Inahwen nahm das Lob lächelnd entgegen. Dann deutete sie auf die vier gepolsterten, mit moosgrünem Samt bezogenen Sessel, die in einem Halbkreis vor dem Kamin standen, und sagte: »Nehmt Platz. Ich will euch etwas zeigen.«
Die Elbin wartete, bis Keelin und Ajana ihrer Aufforderung nachkamen; dann ließ auch sie sich nieder. Ihr Gesicht war ernst und gab nichts von dem preis, was sie bewegte. Schließlich wandte sie sich um, griff nach einer kleinen hölzernen Schatulle auf dem Beistelltisch und hob den Deckel an. »Wisst ihr, was das ist?« Ajana und Keelin beugten sich nach vorn, um einen Blick hineinwerfen zu können.
Keelin sog die Luft scharf durch die Zähne, sagte aber nichts.
»Das ist … Das wird …« Der erwartungsvolle Unterton in Ajanas Stimme war nicht zu überhören. Vorsichtig holte sie mit Daumen und Zeigefinger eine kleine, harte Hülse in Form einer schlanken Pfeilspitze aus der Schatulle hervor. Die Spitze war aufgebrochen und gab den Blick auf etwas Zartes, Grünes im Innern frei.
»… ein Blatt!« Ajana
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