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Das Erbe des Alchimisten

Das Erbe des Alchimisten

Titel: Das Erbe des Alchimisten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christopher Pike
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zwanzig Fuß von meiner Tochter entfernt – nicht gerade eine ideale Distanz für einen Sprung. Vielleicht würde es ihr gelingen, zu reagieren und meinen Schlag abzuwehren. Dann wäre Seymour tot, bevor ich etwas tun könnte.
Ich entschließe mich zu warten. Geduldig zu sein.
Ich frage mich, ob meine Geduld etwas mit meiner Liebe zu meiner Tochter Kalika zu tun hat.
Ja, sie ist meine Tochter. Wie sollte ich sie töten können?
»Ja«, sage ich, »du weißt, daß ich entsetzt wäre.«
Kalika drückt sanft die Taube. »Wärst du entsetzt, wenn ich diesem Vogel den Kopf abreißen würde?«
Diese Bemerkung verärgert mich. »Warum fragst du so etwas Dummes?«
»Um deine Antwort zu bekommen.«
»Das hört sich nach einer Fangfrage an«, warnt Seymour.
Ich zögere. Er hat recht. »Wenn es keinen Grund gibt, sie zu töten, würde ich sagen, laß sie in Ruhe.«
»Beantworte meine Frage«, wiederholt sie.
»Ich wäre nicht entsetzt, wenn du den Vogel töten würdest.«
Kalika reißt der Taube den Kopf ab.
Das Geräusch zersplitternder Knochen und reißenden Fleisches verursacht mir ein Gefühl der Übelkeit. Blut spritzt auf das weiße Kleid meiner Tochter. Seymour hat Mühe, nicht ohnmächtig zu werden. Dann wirft Kalika den Leichnam der Taube über die Schulter ins dunkle Wasser, wobei sie mich nicht aus den Augen läßt. In den Tiefen ihrer Pupillen entdecke ich einen Funken roten Lichts. Das Feuer am Ende der Zeit, so wird es in den Vedas genannt. Der Schatten der letzten Dämmerung. Kalika weiß, daß ich es sehe, und sie lächelt mich an.
»Du wirkst entsetzt, Mutter«, sagt sie.
»Du bist grausam«, sage ich. »Grausamkeit ohne Grund wohnt in der Nähe des Wahnsinns.«
»Ich habe dir bereits gesagt, daß ich meine Gründe habe für das, was ich tue.« Sie wischt sich Blut von der linken Gesichtshälfte. »Sag mir, wo Paula Ramirez’ Kind ist.«
Ich sehe Seymour an. »Ich kann nicht«, antworte ich.
»Verdammt«, flüstert er, und ich erkenne die Angst in seinem Gesicht.
»Warum glaubst du, daß ich diesem Kind etwas tun würde?« fragt sie.
»Wegen dem, was du bisher getan hast«, antworte ich.
»Wenn ich Billy nicht getötet hätte, wärst du heute abend nicht hier. Wenn ich Eric nicht getötet hätte, wäre es genauso.«
»Für mich war Erics Tod keine Voraussetzung dafür, daß ich die letzten vierundzwanzig Stunden überlebt habe.«
»Tatsächlich?«
Vielleicht weist sie damit auf die Tatsache hin, daß ich wieder ein Vampir bin – und daß ich ohne Erics vorherigen Tod diese Verwandlung niemals vollzogen hätte. Damit hätte sie nicht ganz unrecht. Aber ich gehe weiterhin davon aus, daß sie nichts von meiner Transformation weiß und mich weiterhin für hilflos hält. Ich spüre, daß ich bald angreifen muß, egal, ob meine Position vorteilhaft erscheint oder nicht. Der Tod des Vogels hat mein Vertrauen in Kalikas friedliche Absichten nicht gerade gesteigert. Jetzt wartet sie auf meine Antwort.
»Bezüglich Paulas Baby kann ich dir nicht vertrauen«, sage ich und trete einen Schritt auf sie zu. »Das wirst du gewiß verstehen.« Als sie nicht antwortet, frage ich: »Was hast du mit den Polizisten gemacht?«
»Ich habe ihr Schicksal erfüllt.«
»Das ist keine Antwort.«
Kalika tritt näher zu Seymour heran. Sie befindet sich jetzt etwa fünf Fuß links neben ihm. Er sieht sie nicht an, er blickt nur mich an – das Geschöpf, das ihn von AIDS geheilt hat, das ihn zu seinen Geschichten inspiriert. Seine Retterin und seine Muse. Sein Blick bettelt um ein Wunder.
»Was, wenn ich dir verspreche, dem Kind nichts zu tun?« fragt Kalika. »Wirst du mich dann zu ihm bringen?«
»Nein. Das kann ich nicht.«
Sie gibt sich überrascht, aber weder ihre Stimme noch ihr Gesicht drücken eine wirkliche Regung aus. »Menschliche« Äußerungen sind für sie nur Mittel zum Zweck. Ich bezweifle, daß sie irgend etwas fühlt, während sie ißt, liest, herumwandert – oder tötet.
»So?« sagt Kalika. »Habe ich dich bisher jemals angelogen?« Sie bewegt die Arme, als ob sie sich räkeln wolle. Blut tropft von ihren messerscharfen Nägeln. Ich weiß, daß sie im Bruchteil einer Sekunde ausholen kann – und daß es dann zu spät ist, Seymour zu helfen. »Ich bin deine Tochter«, erklärt sie, »aber deine Vorliebe für Lügen habe ich nicht geerbt.«
»Kalika«, bitte ich, »sei vernünftig. Du weigerst dich, mir zu sagen, warum du dieses Kind sehen willst. Wie soll ich etwas anderes vermuten, als daß du ihm etwas antun

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