Das Erbe des Alchimisten
Kali die Asche der toten Schöpfung und die Schädel der verlorenen Seelen. Sie bewahrt sie auf für eine andere Zeit, wenn die Welt wieder Atem schöpfen wird und die Menschen wieder in den Himmel schauen werden und sich fragen, was wohl hinter den Sternen liegt. Doch keiner von ihnen wird wissen, daß es Kali war, die sich an sie erinnerte, als sie aus bloßer Asche bestanden. Keiner von ihnen wird wissen, wer sie begrub, als es niemanden gab, der ihre Gräber zuschütten konnte. Selbst wenn sie es wüßten, würde sich niemand wagen, die große Kali zu verehren, denn sie hätten zuviel Angst vor ihr.
Auch ich fürchte mich, als ich mich an sie erinnere.
Doch sie fordert mich dazu auf, an sie zu denken.
Und aus dem Himmel höre ich eine andere Stimme.
Meine eigene? Der Schock läßt mich in die Wirklichkeit zurückfinden.
Ich stolpere rückwärts von meiner Tochter weg. »Du bist Kali!« keuche ich.
Sie sieht mich nur an. »Du hast mir die Telefonnummer genannt, die Paula in einem Monat anrufen wird.« Damit wendet sie sich ab. »Mehr wollte ich nicht wissen.«
Es ist schwer, sich endgültig von der Macht der Vision zu befreien.
»Warte, bitte! Kalika!«
Sie blickt über die Schulter zurück. »Ja, Mutter?«
»Wer ist das Kind?«
»Mußt du das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Für die Antwort wirst du einen hohen Preis zahlen.«
»Ich muß es wissen!« stoße ich hervor.
Als Antwort geht Kalika bis zum Ende des Piers. Dort kniet sie nieder und löst eine Planke aus dem Boden. Es ist eine alte Planke, lang und schmal, aber als sie sie mit ihren kraftvollen Fingern löst, beginnt sie einem Gegenstand zu ähneln, den ich nur zu gut kenne – aus einer Zeit, in der die Menschen noch vom Aberglauben besessen waren. Zu spät erkenne ich, daß es sich um eine Art Pfahl handelt. Sie hebt den kleinen Speer über den Kopf und wirft ihn. Sein Ziel ist das Wasser.
Er trifft Seymour in den Rücken. Mein Freund schreit auf – und geht unter. »Nein!« stoße ich entsetzt hervor.
Kalika starrt mich an. »Ich habe dir gesagt, daß es seinen Preis haben würde.« Damit wendet sie sich ab. »Und ich lüge nicht, Mutter.«
Mein Knöchel ist noch nicht völlig wiederhergestellt, aber trotzdem bin ich nach wie vor ein Vampir mit ungewöhnlichen Kräften. Ich springe über das Geländer des Piers und tauche in das kalte, salzige Wasser ein – nicht weit von der Stelle entfernt, an der Seymour unter der Wasseroberfläche treibt. Ich zerre ihn aus dem Wasser an die Luft und höre, wie er vor Schmerzen keucht. Als Vampir kann ich in der Dunkelheit genausogut sehen wie im Licht. Der Pfahl hat sich weiter unten durch sein Rückgrat gebohrt. Die Spitze tritt an der Stelle hervor, wo sich ansonsten sein Bauchnabel befinden würde. Aus der Wunde strömt das Blut in heftigen Stößen.
»Es tut weh«, murmelt er.
»Seymour!« rufe ich, während ich versuche, ihn über Wasser zu halten. »Du mußt dich an mir festhalten. Wenn wir es bis zur Küste schaffen, kann ich dich retten.«
Er greift nach dem Pfahl, der seinen Körper durchbohrt hat, und stöhnt auf. »Zieh ihn heraus.«
»Nein, das kann ich nicht. Du würdest in Sekunden verbluten. Ich kann ihn erst an Land herausholen. Du mußt dich jetzt an mir festhalten, damit ich so schnell wie möglich schwimmen kann. Hör mir zu, Seymour!«
Aber der Schock für ihn ist zu groß, als daß er mir jetzt eine wirkliche Hilfe sein könnte. »Hilf mir, Sita«, keucht er erstickt.
»Nein!« Ich schlage ihn leicht ins Gesicht. »Du darfst nicht ohnmächtig werden! Ich bringe dich jetzt an Land.« Damit packe ich ihn fest mit dem rechten Arm und beginne so schnell wie möglich auf die Küste zuzuschwimmen – einarmig, voll bekleidet und mit Stiefeletten an den Füßen. Doch die Geschwindigkeit tut Seymour nicht gut. Während wir uns rasch dem Strand nähern und er dem starken Wasserdruck ausgesetzt ist, verzerrt sich sein Gesicht vor Schmerzen. Zudem nimmt sein Blutverlust zu. Doch ich habe keine andere Möglichkeit: Ich muß mich beeilen.
»Stopp, Sita!« keucht er, als er sich kurz vor einer Ohnmacht befindet. »Ich halte es nicht aus.«
»Du hältst es aus. Diesmal bist du der Held in meiner Geschichte. Du kannst später alles aufschreiben. Der Schmerz vergeht; du wirst sehen, in ein paar Tagen kannst du darüber lachen. Aber heute nacht wirst du zu dem werden, was du schon immer sein wolltest: Ich werde dich zu einem Vampir machen.«
Er wirkt interessiert, aber ich spüre, daß er dem Tod immer näher
Weitere Kostenlose Bücher