Das Erbe des Alchimisten
kommt. Der Strand ist noch immer ein ganzes Stück entfernt. »Tatsächlich?« murmelt er. »Ich – ein Vampir?«
»Ja. Von nun an wirst du nachts immer draußen sein können, jede Party mitmachen und niemals alt und häßlich werden. Wir werden die Welt bereisen und dabei mehr Spaß haben, als du dir vorstellen kannst. Seymour?«
»Jede Party mitmachen«, wiederholt er schwach, und sein Gesicht sackt unter die Wasseroberfläche. Jetzt muß ich auch noch darauf achten, daß sein Mund und seine Nase an der Luft bleiben und er kein Wasser schluckt, was die Sache für mich nicht gerade vereinfacht. Aber trotzdem gebe ich mir Mühe, nicht an Geschwindigkeit zu verlieren. Ein Beobachter am Strand würde vermutlich glauben, ein Rennboot vor sich zu haben, das gleich auf den Strand auflaufen wird. Das Ufer ist jetzt kaum noch hundert Yards entfernt.
»Halt durch!« flüstere ich.
Als das Wasser schließlich nur noch etwa fünf Fuß tief ist und ich stehen kann, höre ich auf zu schwimmen. Ich trage Seymour an Land und lege ihn vorsichtig auf die rechte Seite. Es ist niemand in der Nähe, der uns helfen könnte. Immer noch fließt um den Pfahl herum Blut aus ihm heraus, vorn ebenso wie auf dem Rücken. Seymour ist kalkweiß. Er atmet kaum noch, und als ich ihm etwas ins Ohr schreie, muß ich mich fragen, ob er überhaupt noch hören kann. Vermag mein Blut ihm jetzt noch zu helfen? Es geht ihm schlechter als damals Ray oder Joel. Keiner von beiden hatte einen Pflock durch seine Innereien gerammt. Auch das Fleisch eines Vampirs kann nicht heilen, solange ein solcher Gegenstand in ihm steckt. Aber ich weiß, daß ich das Holz nicht einfach herausziehen kann. Ich spüre, daß das Leben dann mit seinem Blut aus ihm strömen und er mir hier draußen, auf dem kalten Sand, sterben wird.
»Seymour!« schreie ich. »Komm zurück!«
Eine Minute später, als längst alles verloren scheint und er nicht mal mehr atmet, werden meine Gebete merkwürdigerweise erhört. Er öffnet die Augen und sieht mich an. Er grinst sein typisches Grinsen, das mich stets gleichzeitig zum Lachen bringt und den Wunsch in mir weckt, ihm eine reinzuhauen. Doch diesmal kann ich die Tränen kaum zurückhalten. Die Kälte seines Fleisches ist der Atem des Todes, das weiß ich. Der Herr der Finsternis steht zwischen uns, und er ist nicht bereit, Platz zu machen – nicht einmal für einen Vampir.
»Seymour«, sage ich, »wie geht es dir?«
»Gut. Es tut nicht mehr weh.«
»Das ist schön.«
»Aber mir ist so kalt.« Ein Zittern durchläuft seinen Körper. Dunkles Blut quillt über seine Lippen. »Ist das normal?«
»Ja, das ist ganz normal.« Er spürt nicht einmal mehr den Pflock, er ahnt nicht, wie es um ihn steht. Er glaubt, daß ich ihm mein Blut gegeben habe, während er bewußtlos war. Er versucht, meine Hand zu drücken, aber er ist zu schwach. Irgendwie schafft er es trotzdem weiterzusprechen.
»Werde ich jetzt ewig leben?« fragt er.
»Ja.« Ich lege mein Gesicht gegen seine Wange. »Immer und ewig.«
Er schließt die Augen. »Genausolange werde ich dich lieben, Sita.«
»Ich dich auch«, flüstere ich. »Ich dich auch.«
Dann sprechen wir nicht mehr.
Wenig später stirbt er in meinen Armen.
Epilog
Ich bringe seinen Körper zu einem Ort hoch in den Bergen, an dem ich oft spazierengegangen bin, als ich in Los Angeles lebte. Auf einem kleinen Hügel, von dem aus ich zur einen Seite auf die Wüste und zur anderen Seite auf die Stadt blicken kann, sammle ich Holz und errichte damit einen Scheiterhaufen. Seymour lege ich obenauf. Noch am Strand habe ich den blutigen Pfahl aus seinem Körper entfernt und ihn weggeworfen. Jetzt kann Seymour wieder auf dem Rücken liegen, und ich falte ihm die Hände über dem Herzen – einem Herzen, das einst voller Mitleid und Liebe für seine Mitgeschöpfe schlug.
»Du«, flüstere ich, »du warst der Beste.«
In der rechten Hand halte ich ein Streichholz, aber irgendwie schaffe ich es nicht, es anzuzünden. Auf Seymours Gesicht liegt ein solcher Ausdruck der Ruhe, daß ich meinen Blick nicht davon abwenden kann. Doch der Tag schreitet rasch fort, und ich weiß, daß der Wind später immer mehr auffrischen wird. Es wird Zeit, daß die Flammen ihr Werk vollbringen. Seymour hat den Wald stets geliebt, und er würde nicht wollen, daß ein sich ausbreitendes Feuer den Bäumen etwas antut. Er liebte so vieles auf dieser Welt, und ich kann mich glücklich schätzen, daß auch ich dazugehörte.
Ich zünde das Streichholz an
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