Das Erbe von Glen Crannach
gewesen.
Dennoch wurde sie von einem undefinierbaren Gefühl gequält, das sich nicht abschütteln ließ. Obwohl es keinen vernünftigen Grund gab, fühlte sie sich bedroht, und das hatte schon angefangen, ehe sie ins Flugzeug stieg.
Vermutlich hat es mit Eric und seinem Heiratsantrag vor zwei Tagen zu tun, dachte sie.
Sie kannte Eric jetzt seit fast einem Jahr, und er war genau so, wie sie sich den idealen Ehemann vorstellte. Er war neunundzwanzig und somit vier Jahre älter als sie, erfolgreich in seinem Beruf als Rechtsanwalt, und er liebte ebenso wie sie ein ruhiges Leben mit gelegentlichen Restaurant- und Theaterbesuchen. Vor allem jedoch konnte er ihr die Sicherheit und Geborgenheit bieten, die ihr während ihrer turbulenten Kindheit als unerreichbarer Traum erschienen war.
Als er vorgestern Abend bei einem Abendessen in einem Restaurant im West End die Frage stellte, hatte Camilla deshalb sofort Ja sagen wollen. Es verblüffte sie dann, dass er fortfuhr: “Ich weiß, das ist eine wichtige Entscheidung, über die du sicher nachdenken möchtest. Deshalb schlage ich vor, dass du es dir gründlich überlegst, während du in Schottland bist. Du kannst mir deine Antwort geben, wenn du zurückkommst.”
Zuerst wollte Camilla einwenden, sie brauche keine Bedenkzeit. Doch noch ehe sie die richtigen Worte fand, hatte Eric sich abgewandt, um dem Kellner zu winken, und es war zu spät gewesen. Genau in dem Moment hatte sie die Beklommenheit zum ersten Mal verspürt. Es kam Camilla fast so vor, als hätte sie etwas aufs Spiel gesetzt, was ihr sehr wichtig erschien.
Natürlich ist das lächerlich, sagte sie sich jetzt streng. Ebenso unlogisch und töricht ist es, meine persönlichen Ängste auf diese Schottlandreise zu übertragen. Sobald die Woche vorüber ist, werde ich nach London zurückkehren und Eric mein Jawort geben. Und dann wird mein Leben so verlaufen, wie ich es geplant habe.
In diesem Moment wurde sie durch einen Schatten abgelenkt, der in ihrem Rückspiegel auftauchte – ein Schatten, der rasch näher kam und sich als staubiger Land Rover entpuppte. Obwohl die Straße sehr schmal war, hatte der Fahrer offenbar vor, Camilla zu überholen. Um sie zu warnen, drückte er ungeduldig auf die Hupe, ehe er so haarscharf an Camilla vorbeischoss, dass Steinchen gegen die Karosserie ihres Wagens spritzten.
Es ging alles so schnell, dass sie nicht erkennen konnte, wer am Steuer saß, trotzdem schrie sie empört: “Verdammter Cowboy!”
Dann hielt sie einen Moment an, um die Fassung wiederzugewinnen. Der Vorfall hatte sie ziemlich durcheinandergebracht, denn er schien ein weiterer Beweis zu sein, dass dieses Land ihr feindlich gesinnt war. Und wieder fragte sie sich, ob es ein Fehler gewesen war, herzukommen.
Ungeduldig schob sie den Gedanken beiseite. Sie hatte einen Auftrag zu erledigen, und das würde sie auch tun.
Camilla verfuhr sich nicht mehr auf dem Weg nach Glen Crannach, aber ihr blieb trotzdem keine Zeit mehr, am Stag Hotel zu halten, wo sie ein Zimmer reserviert hatte, und ihr Gepäck auszuladen. Sie war um vier im Schloss angemeldet, und ihr beruflicher Stolz ließ es nicht zu, dass sie sich verspätete.
Zehn Minuten vor der Zeit traf sie am Tor ein und hielt einen Moment, um das von Brüstungen und Türmen gekrönte Schloss zu bewundern, dessen graue Mauern sich von dem in der Sonne leuchtenden Herbstlaub abhoben. Das war also das Zuhause des fünfzehnten Lord von Glen Crannach. Es beherbergte einen Schatz, der der Grund für Camillas Reise war – die umfassendste Privatsammlung früher keltischer Kunst der Welt.
Camilla lächelte. Das war wirklich ein würdiger Rahmen für die Kunstwerke, die sie fotografieren sollte. Schloss Crannach war so, wie man sich ein schottisches Schloss vorstellte. Während sie langsam den Kiesweg hinauffuhr, verspürte sie zum ersten Mal Begeisterung für die Arbeit, die vor ihr lag.
Ihre Vorfreude erhielt einen Dämpfer, als sie vor der Tür einen staubigen Land Rover entdeckte, der dem, der sie überholt hatte, ähnelte wie ein Ei dem anderen.
Aber Fahrzeuge mit Vierradantrieb sind in dieser Gegend bestimmt ebenso häufig wie Doppelstockbusse in London, sprach sie sich Mut zu, während sie ausstieg. Undenkbar, dass jemand, der zu Schloss Crannach gehörte, so schlechte Manieren hatte wie der Fahrer vorhin.
Den zweiten Dämpfer bekam sie, als sie auf die Klingel drückte. Da dachte Camilla allerdings noch nicht daran, dass nicht nur aller guten, sondern auch
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