Das Erbe von Glen Crannach
aufreizend. “Ein neues Wort für Sie.”
Camilla war zu sehr Dame, um ihm zu sagen, was er ihrer Meinung nach mit seinem Beitrag zu ihrem Wortschatz tun konnte. Stattdessen lächelte sie kühl und vollführte eine vorschriftsmäßige Dreipunktwendung auf der schmalen Straße. Dann lehnte sie sich noch einmal aus dem Fenster. “Vielen Dank für alles. Die Begegnung war sehr aufschlussreich.”
“Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite. Ich stehe Ihnen jederzeit gern wieder zu Diensten. Allerdings hoffe ich, dass ich beim nächsten Mal nicht so viel Zeit damit verschwenden muss, Ihnen Manieren beizubringen.”
So eine Unverschämtheit!
“Keine Sorge”, versicherte Camilla spitz. “Ich denke nicht daran, auch nur eine weitere Sekunde Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch zu nehmen.”
“Das freut mich zu hören.” Er wandte sich ab. “Ich finde, dass das eine sehr löbliche Absicht ist – um unser beider willen.”
Eine solche Arroganz ist mir nicht einmal in London begegnet, dachte Camilla gereizt, als sie den Gang einlegte und aufs Gas trat. Trotzdem konnte sie ein leises Lachen nicht unterdrücken, als sie das Fenster hochkurbelte und davonfuhr. Beim nächsten Mal, hatte er gesagt. Von wegen! Es würde kein nächstes Mal geben, nicht, wenn sie ihn zuerst entdeckte. Und falls es doch dazu kam, würde sie ernsthaft in Versuchung geraten, ihn mitsamt seinem “Schafschwarm” über den Haufen zu fahren. Sie biss sich auf die Lippe. Es hieß Herde. In diesem Punkt hatte er recht gehabt.
Zu ihrem Erstaunen fand Camilla die Abzweigung nach Glen Crannach genau an der von dem Mann beschriebenen Stelle. Es war allerdings kein Wunder, dass sie sie beim ersten Mal übersehen hatte. Das windschiefe Hinweisschild wurde fast ganz von dem dichten Laubwerk einer Eberesche verdeckt, das in der Herbstsonne rotgolden leuchtete.
Camilla schaute auf die Uhr und rechnete kurz nach. Laut der Entfernungsangabe auf dem Schild waren es noch dreizehn Kilometer nach Glen Crannach. Wenn sie die letzte Etappe der Reise hinter sich brachte, ohne sich ein weiteres Mal zu verfahren, würde sie vielleicht doch noch rechtzeitig zu ihrem Termin mit dem ehrenwerten Greg McKeown im Schloss eintreffen.
Sie wusste sehr wohl, dass der alte Lord gesundheitlich angegriffen war und sich deshalb in geschäftlichen Dingen schon seit einiger Zeit von seinem Enkel Greg vertreten ließ. Das hatte die Sekretärin ihr mitgeteilt, als Camilla aus London angerufen hatte, um das Treffen zu vereinbaren. Aber sie hatte keinen Grund gesehen, das dem ungehobelten Schafhirten zu sagen.
Während sie langsam weiterfuhr und vor jeder Kurve darum betete, nicht noch einmal einer Schafherde zu begegnen, dachte sie beklommen an die Woche, die vor ihr lag. Aus welchem Grund sah sie diesem Auftrag bloß mit so gemischten Gefühlen entgegen?
Zugegeben, das schottische Hochland war nicht gerade Paris oder Florenz. Manche Leute würden sogar sagen, sie hätte Pech gehabt, als die Aufträge vergeben wurden …
Es war Annie gewesen, die ihr die Neuigkeit über den Auftrag des Meredith-Verlags mitgeteilt hatte.
“Stell dir vor”, hatte Annie gesagt, “Meredith will eine neue Kunstbuchserie herausbringen, und ‘Focus’ soll die Fotos für drei davon machen – ‘Der französische Impressionismus’, ‘Die italienische Renaissance’ und ‘Das keltische Erbe Schottlands’.”
Das war ein beachtlicher Fang für “Focus”, das kleine, aber renommierte Fotostudio, das Annie zusammen mit ihren Teilhaberinnen Camilla und Sue in einem umgebauten Lagerhaus hinter dem Covent Garden betrieb. Dennoch hatte Camilla von Anfang an eine ungute Vorahnung gehabt … und sie hatte auch schon vor der Verlosung der Aufträge gewusst, dass es ihr bestimmt war, eine Woche lang Haggis zu essen – das schottische Nationalgericht auf Blutwurstbasis, das jeden Fremden erschauern ließ – anstatt Gänseleberpastete oder Tortellini.
“Kopf hoch”, hatte Sue Camilla getröstet, als das Ergebnis der Verlosung feststand. “Wie ich gehört habe, soll das Wetter dort oben um diese Jahreszeit herrlich sein.”
Das stimmte wirklich. Während Camilla die einsame Straße entlangfuhr, genoss sie den Blick auf die Berge, die violett in der Nachmittagssonne schimmerten. Wenn sie ganz ehrlich war, machte es ihr gar nicht so viel aus, dass sie nicht nach Frankreich oder Italien hatte fahren dürfen. Diese beiden Länder hatte sie schon gründlich bereist. In Schottland war sie jedoch noch nie
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