Das Erbe von Glen Crannach
1. KAPITEL
Camilla nahm die unübersichtliche Kurve, die aus dem Wald führte, viel zu schnell und wäre beinahe in eine Schafherde gerast. Heftig trat sie aufs Bremspedal, und der Wagen kam mit quietschenden Reifen zum Stehen.
“Himmel Donnerwetter!”, schimpfte sie und sah sich besorgt um. Hoffentlich war der kostbaren Kameraausrüstung auf dem Rücksitz nichts passiert. Dann wandte Camilla ihre Aufmerksamkeit wieder der Szene vor ihr zu. “Auch das noch!”
Die Straße war völlig verstopft von einer wimmelnden wolligen Masse, die nicht die geringste Neigung zu haben schien, dem Wagen Platz zu machen. Das machte das Maß voll an einem Tag, der schon wenig verheißungsvoll angefangen hatte und nach und nach immer schlimmer geworden war!
Erst vor knapp drei Stunden war Camilla von London nach Inverness geflogen, um einen vermeintlichen Routineauftrag als Fotografin zu erledigen, und schon jetzt wusste sie, dass ihre heimliche Vermutung zutraf: Sie und das schottische Hochland waren nicht füreinander geschaffen. Drei Stunden waren bereits mehr als genug. Wie um alles in der Welt sollte sie es da eine ganze Woche hier aushalten?
Mit einer Geste, die ihre ganze aufgestaute Frustration ausdrückte, drückte Camilla heftig auf die Hupe. Dass dies nicht nur töricht, sondern möglicherweise auch gefährlich war, wurde Camilla klar, noch ehe der durchdringende Ton die Stille der Landschaft zerriss und die ohnehin schon unruhigen Tiere aufscheuchte. Doch mit der Reaktion, die dann kam, hatte Camilla nicht gerechnet.
“Was zum Teufel machen Sie da?”, brüllte jemand aufgebracht.
Schuldbewusst drehte Camilla sich halb um und sah einen großen, kräftig gebauten Mann in einem Pullover mit irischem Muster und Jeans durch die Baumgruppe auf der anderen Seite der Straße auf sich zukommen.
Der Wind hatte dem Mann das dichte dunkle Haar aus der Stirn geweht; die markanten, ebenmäßigen Züge, die wie von einem Bildhauer geschaffen wirkten, waren deutlich sichtbar. Man brauchte kein geschulter Psychologe zu sein, um aus der Miene des Mannes auf die Stimmung schließen zu können, in der er sich befand. Selbst aus dieser einigermaßen sicheren Entfernung hatte Camilla das Gefühl, dass der Boden unter seinen Füßen erzitterte, als er näher kam.
Mit wenigen großen Schritten erreichte der Fremde die Straße. “Was glauben Sie eigentlich, wo Sie sind? Etwa in Brand’s Hatch?”, fragte er brüsk. “Diese Straße ist keine Rennstrecke. Und was bilden Sie sich ein, wie eine Verrückte zu hupen?”
Die Entschuldigung, die Camilla bereits auf den Lippen gelegen hatte, wurde nie ausgesprochen. Wofür zum Teufel hielt sich dieser verwegen aussehende, ungehobelte Kerl eigentlich, dass er es wagte, so mit ihr zu sprechen?
Camilla schob das Kinn vor und kurbelte das Fenster weiter herunter. Dann warf sie den Kopf zurück, dass ihr das hellblonde Haar über die Schultern flog, kniff die Augen zusammen und lehnte sich hinaus.
“Sind Sie zufällig für diese Tiere verantwortlich?”, fragte sie schneidend.
“Und wenn es so wäre?”
Sein Ton stand ihrem in nichts nach. Während der Mann sprach, war er die letzten Schritte herangekommen, die Schultern hatte er aggressiv zurückgenommen und die Daumen kampflustig in die Hosentaschen gehakt.
Während Camilla ängstlich in das eindrucksvolle, tief gebräunte Gesicht mit den stahlgrauen Augen unter dunklen Brauen, der kräftigen Nase und dem sinnlichen Mund blickte, hatte sie das Gefühl, als ließe die mühsam gezügelte Kraft des Mannes die Luft um ihn herum vibrieren.
Doch von einem solchen ungehobelten Bauernlümmel würde sie sich nicht einschüchtern lassen, und wenn er noch so stark war! Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten – dem Blick eines Jägers –, und fauchte: “Dann würde ich Ihnen empfehlen, die Tiere besser zu hüten! Sie blockieren mir die Durchfahrt.”
“Meine Schafe blockieren Ihnen die Durchfahrt? Du meine Güte, das geht natürlich nicht!” Er zog eine Augenbraue hoch und musterte Camilla spöttisch lächelnd. Offenbar hatte er an ihrem Akzent erkannt, dass sie aus Südengland stammte. Gleich darauf wurde sein Gesicht wieder hart. “Sie sind hier nicht in Knightsbridge. In dieser Gegend gelten, fürchte ich, andere Regeln.”
Damit hat er allerdings recht, dachte Camilla ironisch, als sie sich an das Durcheinander bei der Gepäckausgabe am Flughafen erinnerte, ganz zu schweigen von der nicht auffindbaren Reservierung für den
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