Das Erbe
herunter und reichte es Katie. Aber im Gegensatz zu ihrer Freundin konnte sie erkennen, dass es zu spät war. Es war vorbei. Mrs Hill atmete nicht mehr.
Roses Hand griff nach Katies Schulter. »Hör auf. Du kannst nichts mehr für sie tun.«
Doch ihre Freundin achtete nicht auf sie, sie presste das Tuch immer fester auf das Loch und Rose sah zu, wie es sich vollsaugte, bis das Blut schließlich immer weniger wurde.
»Hör auf, Katie«, wiederholte sie. »Sie ist tot.«
Katies Blick richtete sich mit entschiedenem Ausdruck auf ihr Gesicht, als wollte sie sagen: Ich bestimme, wann sie tot ist.
Rose kannte dieses Gefühl von Sally. Erst als sie selbst es zugelassen hatte, hatte sie den Tod ihrer Tochter begriffen. So wie Katie jetzt begriff, dass sie nichts mehr für Mrs Hill tun konnte.
Waren Toms Drohungen bisher reine Theorie gewesen, ein Gedankenspiel, das mit den Worten begann: Was wäre wenn … so hatte er jetzt Fakten geschaffen. Es hatte keinen Grund gegeben, Mrs Hill zu erschießen oder irgendjemand anderen. Noch immer war ihm anzusehen, wie zufrieden er war. Ja, er blickte sich im Raum um, als wolle er sagen: Glaubt ihr mir jetzt?
Er hatte die Grenze zwischen Leben und Tod überschritten, und wenn er es einmal geschafft hatte, würde er es wieder tun. Wie er es angekündigt hatte.
Jetzt hatte er sein Publikum. Alle, aber auch alle achteten auf ihn. Aber das konnte nicht alles sein. Tom war keiner von diesen Versagern, niemand, der von allen gehänselt wurde und schließlich, nach Jahren der Demütigung, ausrastete. Nein, er war beliebt, sah blendend aus, kam überall gut an. Warum also das hier? Warum zum Mörder werden?
»Also, ihr habt es gehört«, rief Tom in diesem Augenblick. »Sobald David Freeman hier erscheint, könnt ihr gehen. Die Prüfung ist dann zu Ende. Wenn er nicht kommt, wenn er das College verlassen hat, weil er sich wieder vor Angst in die Hose macht, dann geht das Spiel weiter. Alle fünfzehn Minuten ein Name.«
Wenn Rose etwas hasste, dann war es das Glücksspiel. Sie war einmal mit ihren Eltern im Kasino gewesen. Aber sie hatte nicht einmal die Spieljetons benutzt, die man ihr in die Hand drückte. Der Croupier hatte nur von den Gewinnchancen gesprochen, nicht davon, was man riskierte, was man verlieren konnte.
Auch Tom spielte Roulette. Entschied nach Lust und Laune. Er konnte einfach irgendeinen Namen aus Mrs Hills Handtasche ziehen oder er zielte auf irgendjemanden. So lange … so lange, bis David auftauchte.
Schon wieder waren drei Minuten vergangen.
Und auch die imaginäre Uhr in dem schwarzen Kästchen tickte weiter. Und es gab noch nicht mal den Trost, dass der Zünder nicht funktionieren würde. Denn der Zünder war kein billiger Wecker, wie in einem Hollywoodstreifen, es war Tom selbst, der die Uhr im Kopf hatte. Der Herrscher über die Zeit.
Niemand hatte bisher zurückgerufen.
»Wo bleibt er, euer Freund?«, hob Tom erneut an und fuhr spöttisch fort. »Ihr vertraut ihm, was? Aber ich sage euch etwas. So jemandem kann man nicht vertrauen. Versteht ihr? Ich sehe doch, was los ist. Er pisst sich auf. Your good guy? Mr Perfect. Schwachsinn!«
Als niemand ihm antwortete, rutschte er von seinem Platz und begann, vorne auf und ab zu gehen.
»Wo bleibt er?«
Mit einem Mal wirkte er sichtlich angespannt, fluchte und trat gegen einen Stuhl, der laut krachend umkippte.
»Könnt ihr nicht sprechen?« Er sah von Rose zu Katie zu Chris. »Ich dachte, ihr seid die Crème de la Crème. Und jetzt? Wenn’s darauf ankommt, dann bleibt euch die Sprache im Hals stecken.«
»Leg die Waffe weg«, sagte Katie. Ihre Stimme zitterte, obwohl sie sich Mühe gab, entschieden zu klingen. »Leg sie weg. Dann können wir reden.«
»Katie West.« Tom richtete die Waffe auf sie. »Du bist David viel ähnlicher, als du denkst. Du hast schon einmal versagt und dich dann hier verkrochen. Du hättest auch in Kauf genommen, dass er stirbt, oder? Hast ihn einfach liegen gelassen am Ufer des Potomac River. Wie ist noch einmal sein Name? Sebastien. Du fürchtest dich, ihn zu besuchen.«
Tom wandte sich zur Seite und zielte auf Chris: »Und du und deine kleine Freundin, ihr verschweigt den anderen, was ihr wisst. Wer dein Vater wirklich war. Nicht nur ein Säufer. Menschenexperimente. Das war es, was ihn antrieb, oder? Psychoterror verschaffte ihm Befriedigung. Er war nicht besser als ich.«
Er ließ das Schweigen wirken und genoss die Reaktionen auf seine Worte.
»Und Debbie? Deborah
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