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Das Erbe

Das Erbe

Titel: Das Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Krystyna Kuhn
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der hintersten Ecke des Raums, wo Mrs Hill auf den Knien lag und sich übergab. Tränen vermischten sich mit der Flüssigkeit, die sich über den Boden ergoss.
    Isabel war aufgesprungen, sie hatte neben ihrer Mutter gesessen. Aber sie machte keinerlei Anstalten, ihr beizustehen, sondern ließ sich nur unter einem Fenster zu Boden sinken.
    Noch im Gehen zog Rose den weißen Pullover über den Kopf. Bei der Dozentin angekommen, säuberte Rose ihr Gesicht, so gut es ging, und wischte den Boden sauber. Trotz des Aufruhrs in ihrem Innern zwang sie sich zur Ruhe und führte jede Bewegung bewusst langsam und mit Bedacht aus. Zum Teil aus dem absurden Gefühl heraus, sie könnte die Zeit anhalten, zum Teil, um Tom nicht die Genugtuung zu verschaffen, sie hätte Angst vor ihm.
    Dann versuchte sie, die Dozentin mit leisen Worten dazu zu bewegen, aufzustehen und die Ecke zu verlassen. Aber Mrs Hill war in einen Zustand teilnahmsloser Apathie versunken. Sie reagierte nicht.
    »Isabel, hilf mir«, sagte Rose.
    Aber die ältere Studentin schüttelte den Kopf, presste den Rücken an den Heizkörper und schlang die Arme um sich.
    Stattdessen trat Nikita vor und packte mit zu und Rose nickte dem schlanken dunkelhaarigen Jungen mit dem glatten Gesicht dankbar zu. Sie hatte noch nie mit ihm gesprochen, sie kannte ihn nur aus den Meldungen, wenn er wieder einmal einen Collegerekord im Sprint brach.
    »Warum?« Chris’ Stimme durchbrach die Stille und nun stand er doch auf. »Warum Julia?«
    Ihr war klar, was ihm durch den Kopf ging. Sechsundzwanzig gegen einen. Es musste eine andere Möglichkeit geben. Aber irgendjemand würde dabei sterben. Er wusste es. Sie wusste es. Alle wussten es. Sonst hätten sie längst gehandelt.
    »Es ist besser, du setzt dich wieder, Bishop«, erklärte Tom. »Obwohl es mir egal ist, ob du im Stehen, Sitzen oder meinetwegen liegend in die ewigen Jagdgründe eingehst. Das hier hat mit dir nichts zu tun. Noch nicht. David ist nicht der, für den ihr ihn alle haltet. Euer Leben hängt allein von ihm ab. Und die Uhr läuft. Ihr hört sie nicht. Ihr hört sie nicht, aber glaubt mir, ich hab sie unter meiner Kontrolle. Und das fühlt sich gut an. Verdammt gut. Endlich.«
    Warum ausgerechnet David? Er, an den ein unsichtbares Band sie fesselte, seit er ihr das Leben gerettet hatte. Er hatte sie damals umarmt. Ganz kurz nur, um ihr zu zeigen, dass sie in Sicherheit war. Sein Körper dicht an ihrem. Damit hatte er ein Gefühl von Nähe geschaffen, das sie noch jetzt mit jeder Faser ihres Körpers spürte. Doch er war von Anfang an in Julia verliebt gewesen. Hatte Tom sie deshalb als erstes Opfer ausgewählt?
    »Ich sage dir, geh zurück, Bishop, oder …« Tom drehte die Waffe und zielte nun genau auf Julia.
    »Setz dich sofort auf deinen Platz, Chris.« Katies Stimme duldete keinen Widerspruch. Selbst Tom schien für einen Moment irritiert. »Setz dich.«
    Während Debbie nach unten gerutscht war und wie ein Embryo die Arme über der Brust gekreuzt hielt, hatte Katie ihre Haltung nicht verändert. Die schwarzen Lamellen des Rollladens wurden von grauen Streifen unterbrochen, die heller schienen als vorher. Auch Katies Gesichtsausdruck unter den schwarzen Haaren gewann an Klarheit.
    »Hörst du, Chris? Setz dich einfach wieder hin. Ich verspreche dir, der Zeitpunkt wird kommen, an dem du den Helden spielen kannst. Aber nicht jetzt.«
    Nicht einmal in dieser Situation nahm sie den Spott aus ihrer Stimme. Und das machte Rose Angst. Sie spürte plötzlich, dass sich hier oben im Tal bei jedem von ihnen etwas Entscheidendes verändert hatte. Bei ihr selbst, Katie, Julia, Chris. Fast, als hätten sie sich an den Tod gewöhnt. Gleichzeitig war ihr selbst das Leben wieder lieb geworden, ja, das schon. Aber die Angst vor dem Tod – die stand auf einem anderen Blatt.
    Nur so war zu erklären, weshalb Julia nun den Stuhl gerade rückte und nach dem Füllfederhalter griff. Dann zog sie das Blatt mit den Prüfungsaufgaben zu sich heran und begann zu schreiben. Nicht, weil sie sich aus der Realität ausklinkte. Nein, sie wollte etwas zu Ende führen, bevor sie starb.
    Rose hatte lange nicht begriffen, warum Julia so verschlossen war. Bis sie ihnen ihre und Roberts Geschichte erzählt hatte. Sie hatten sich wieder einmal am Gedenkstein getroffen.
    Julia erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Julia hatte sich nach unten gebeugt und den unteren Teil des Steins, der im Schnee vergraben gewesen war, freigelegt. Dann hatte sie

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