Das Erbe
Richtungen einzunehmen. Hatte ich es nicht längst vorher schon begriffen? Als ich das giftgrüne, verrückte Männchen auf dem Display meines Handys gesehen hatte?
Jemand hatte es auf mich abgesehen. Und ich hatte es erwartet. Ja, ich hatte damit gerechnet. Ich musste Fehler wiedergutmachen, die ich begangen hatte. Eine lange Liste von Fehlern. Es ging darum, gegen die Albträume anzukämpfen. Die letzten Wochen hatte ich gespürt, wie diese Träume intensiver wurden. Wie sie weniger absurd, die Bilder stattdessen konkreter wurden. Wie ich einzelne Gesichter erkannte.
Immer wieder rannte ich durch die Gänge der Highschool von Great Falls. Im Traum hörte ich die Schüsse. Der Boden war übersät mit losen Blättern, Kleidungsstücken. Patronenhülsen rollten mir vor die Füße. Deckenplatten waren heruntergeschossen worden. Ich sah Blut. Schüler, die sich am Boden krümmten. Und ich schaute weg. Schaute einfach weg. Denn ich war auf der Flucht. Auf der Flucht vor Jacob.
»Während wir einem Phantom hinterherjagten und schließlich du unser Attentäter warst, hat er sechsundzwanzig Geiseln in seine Gewalt gebracht.« Harper wischte sich über die Augen, unter denen sich dunkle Ringe gebildet hatten. »Die Tür ist von innen verschlossen. Wir haben keine Möglichkeit, sie zu öffnen. Die Überwachungskamera ist ausgeschaltet. Er droht, einen nach dem anderen zu erschießen. Soweit wir wissen, gibt es noch keine Toten. Aber wir müssen verhindern, dass es dazu kommt.«
»Ich bin bereit«, sagte ich und sprang auf. »Er will mich. Lassen Sie mich mit ihm sprechen.«
»Das ist nicht so einfach. Wir haben keine Ahnung, was in dem Raum vor sich geht.«
»Wer?«, fragte Robert. »Wer ist es?«
»Tom.«
»Tom?«
»Tom Levinski.« Er wandte sich wieder mir zu. »Kennst du ihn? Seid ihr befreundet? Was weißt du über ihn?«
Ich zuckte zusammen. Tom Levinski?
»Ich kenne ihn so gut wie gar nicht. Okay, seit einiger Zeit er ist mit einem Freund von uns zusammen, aber mehr als Small Talk war da nicht.«
Oder doch? Ich dachte an die letzte Woche zurück, als Tom mit Benjamin im Club Voltaire aufgetaucht war, da hatte ich mir eingebildet, er würde mich taxieren. Vielleicht hatte ich mich nicht getäuscht? Aber all das war jetzt unwichtig.
»Sagen Sie ihm, dass ich hier bin.«
»Was könnte er von dir wollen? Welche Verbindung hast du zu ihm? Denk nach. Warum dieses Foto im Internet? Warum macht er dich erst zum Verdächtigen und dann zum Retter?«
Die Fragen prasselten auf mich nieder. Ich brachte die Antworten nicht heraus, obwohl sie ganz klar auf der Hand lagen. Die Fragen fassten all das zusammen, was mich die Jahre über beschäftigt hatte. Deshalb hatten sie eine gewisse Logik. Eine Furcht einflößende Schlüssigkeit. Zumindest für mich. Aber es würde zu lange dauern, das zu erklären. Ich müsste an dem Tag anfangen, als ich in dem Schrank im Chemiesaal saß und nicht wusste, was ich tun sollte.
»Was spielt das jetzt für eine Rolle?«
»Wenn wir wissen, worum es geht, können wir die Bedingungen stellen. Die Kontrolle übernehmen. So jemand ist unberechenbar, verstehst du? Wenn wir dich ihm ausliefern, kann es sein, dass er ein Opfer mehr hat.«
»Ich werde nur mit ihm reden, wenn er die anderen freilässt. Und ich habe keine Angst.«
Ich meinte es ernst. Mir wurde das Leben von sechsundzwanzig Menschen aufgebürdet und ich war fast dankbar dafür. Denn so könnte ich vielleicht wiedergutmachen, dass ich das Leben von sieben anderen auf meinem Gewissen hatte.
»Ich weiß nicht, was er von mir will.« Ich sah ungeduldig zur Tür. »Aber das spielt auch keine Rolle für mich. Ich gehe da rein.«
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Nein, das wirst du nicht tun. Wir spielen dieses Spiel, nicht er.«
»Sind Sie da sicher?« Ich wies mit der Hand nach draußen. »Denn für mich sieht das nicht so aus.«
Plötzlich sanken seine Schultern nach vorn und er wirkte um Jahre gealtert. Er war nicht dumm. Er wusste, dass er keine anderen Optionen hatte.
»Okay, du kannst mit ihm reden«, gab er schließlich nach. »Aber nur am Telefon. Du musst versuchen, Zeit zu gewinnen. Ich erwarte hier jeden Moment Spezialisten und eine Psychologin, die sich mit so etwas auskennt.«
»Nein«, ich schüttelte den Kopf. »Wenn er es so will, werde ich dort hochgehen und von Angesicht zu Angesicht mit ihm sprechen. Alles andere würde ihn nur unnötig reizen.«
»So einfach ist das nicht«, mischte sich Mrs Garcia ein.
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