Das erste Mal und immer wieder
laut johlend die Flucht vor seinem ordinären Gebrüll.
Ich war ein auffallend hübsches, schlankes, groß gewachsenes Mädchen mit Minibrust geworden und wäre sicher Blickfang der heranwachsenden Jungen im Ort gewesen, wenn ich nicht jede Gelegenheit genutzt hätte, mich zu verunstalten. Ich hasste die Welt, und die Welt hasste mich.
Um dies zu demonstrieren, legte ich stets schwarzen Lippenstift auf, färbte meine Haare quittebunt durcheinander und steckte mir riesige Sicherheitsnadeln durch meine Ohrläppchen. Immer auffällig, eng und ganz in Schwarz gekleidet, stöckelte ich auf riesigen Absätzen durchs Leben und durch den Ort. Ich befand mich auf einer Reise, einer Reise mit dem erklärten Ziel, mich selbst zu finden. Wo ich war, wollte ich nicht bleiben, Liebe, die ich fand, konnte ich nicht sehen, und Schmerz, den ich spürte, konnte ich nicht erklären.
Niemals kann man sicher sein, den richtigen Weg zu gehen, der zu dem führt, was man sucht: dem großen, persönlichen Glück. Fragt man die, denen es gelungen ist, so hört man oft lange Geschichten. Sie beginnen oftmals mit den Worten: »Also, das war damals ein riesiger Zufall.« Aber denke ich über meine eigene Geschichte nach, so kann ich solche Worte nicht wirklich finden.
Die Schule besuchte ich nur selten, Schulbücher hatte ich nie vollständig, und Hausaufgaben waren mir ein Gräuel. Ich schlief oft lange und hatte große Mühe, mich zu Hause auch nur ansatzweise einzugliedern. In dieser Zeit wurde auch meine Mutter krank, und bald hatte sie keine Kraft und Lust mehr, sich mit mir auseinanderzusetzen. Mein Stiefpapa Klaus unternahm einige für mich schmerzhafte Versuche, mir mit dem Kabel meines Kassettenrekorders Vernunft und Anstand einzubläuen. Vergebens. Ich lachte ihm ins Gesicht, sagte ihm, dass er nicht mein richtiger Vater sei, und verschanzte mich hinter Desinteresse. Alle Versuche, mich irgendwie einzugliedern, schlugen fehl. So blieb meiner Mutter nichts weiter übrig, als mich hin und wieder unter größten Schwierigkeiten erneut umzuschulen, und für Klaus, mich in seinem Haus als Fremde zu tolerieren.
Lieber Klaus: Schade, dass die Schatten im Haus nicht zu sehen waren. Ich bin mir sicher, du hättest sie vertrieben.
»Hey, Lisa!«, rief sie laut über die Straße. Ich schaute zu ihr hinunter, wie sie langsam den Berg herauftrottete: Marianne, die Tochter vom alten Heinz Kohlke, vier Jahre älter als ich und ebenso von allen gemieden und ausgestoßen wie ihr Vater. »Mach hin, der Bus kommt doch gleich!«, schrie ich zurück und winkte mit beiden Armen, um sie anzufeuern. Es war kurz vor sieben an diesem Morgen. Meine Mutter hatte eine neue Schule gefunden, die mich aufnehmen wollte, und so stand ich mit ganz neuer Schulmappe, gewaschenen Haaren und zu enger Jeans am frühen Morgen draußen an der Hauptstraße unseres Dorfes. Lust hatte ich keine, ich war völlig übermüdet, da ich mal wieder die ganze Nacht durch undefinierbare Albträume gequält worden war. Ausnahmsweise ließ meine Mutter mich an diesem Tag alleine fahren, obwohl sie mich sonst immer gern am ersten Tag begleitete. Sie hatte mir am Vorabend einen langen Vortrag über Verantwortung, Vertrauen und neue Chancen gehalten und dabei die ganze Zeit einen flehenden Ausdruck in ihren Augen gehabt.
Ich hasste diese Momente, wenn ich spürte, dass ich weich wurde, mich gern an sie geschmiegt und sie um Hilfe gebeten hätte. Auch, da ich nicht wusste, was für eine Hilfe das sein sollte. Es waren diese Minuten, in denen ich nachgab, und so stand ich nun halbwegs motiviert an der Bushaltestelle, bereit, die Schule zu besuchen.
Marianne kam schnaufend und grinsend näher. »Sag bloß, du gehst in die Penne?«, fragte sie mich ungläubig, und ich fühlte mich direkt wieder angegriffen.
»Ja, na klar, und du?«, fragte ich fast giftig zurück, obwohl es mich nicht wirklich interessierte.
Langsam fing es wieder an zu nieseln, wie all die Tage vorher schon, und wir suchten Schutz unter dem Plastikdach der Haltestelle. Marianne hatte keine Jacke an, wahrscheinlich besaß sie gar keine. Sie muss an die 17 Jahre alt gewesen sein, sah aber aus wie Anfang 20. Durch ihre dunklen naturkrausen Haare, die sie seitlich mit bunten Haarklemmen in Zaum hielt, die kleinen silberfarbenen Ohrstecker, die sie immer trug, und ihre großen, hellblauen Augen konnte man sie fast hübsch nennen. Im Sommer hatte sie immer Sommersprossen auf ihrer Stupsnase und schminkte sich ihren vollen
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