Das erste Mal und immer wieder
Tür zur Kellertreppe mit lautem Knall zu.
Auf dem kalten Fliesenboden, vor der verschlossenen Tür meiner ganz privaten Hölle, sank ich zusammen, verharrte reglos und fragte mich, was ich da getan hatte. Wie schlecht, wie böse ich gewesen sein musste, und verstand trotzdem nicht, was eigentlich mein Vergehen war.
Dann sah ich den Schlüssel, er steckte von außen in der Haustür, mit seinem schwarzen Lederetui. Sie waren da, meine Mutter war zu Hause, und zu Hause waren wir hier.
Mama und Klaus saßen in der Küche. »Hallo, Püppchen, bist du es?« – »Ja, ich bin es, weißt du was, Mama?«, ich trat in die Küche, nach Worten suchend, um zu erzählen, was mir passiert war. Aber was war eigentlich passiert? Würde Klaus uns wirklich hinauswerfen? Dann hätte Mama keinen Mann mehr.
»Lieselchen«, sagte sie zärtlich, »setz dich zu uns. Denk dir mal, wir fahren alle vier in den Urlaub, Klaus hat uns eingeladen.« Ich setzte mich auf die Eckbank in der Küche. »Schön«, es kam wohl leise und dünn.
Meine Mutter aber war in absoluter Hochstimmung.
Nichts ahnend ergriff sie über den Tisch hinweg meine Hand und redete munter und aufgekratzt von der bevorstehenden Reise. Sie liebte die Natur, das Wandern, Klettern, Picknicks unter freiem Himmel.
Ich habe an diesem Tag geschwiegen, nicht um des Urlaubs willen oder um Aufregung zu vermeiden. Ich hatte einfach keine Worte dafür und konnte weder erklären, was passiert war, noch abschätzen, was ich Böses getan hatte.
In dieser Nacht holte ich mir den Kosmetikspiegel meiner Mutter heimlich in mein Zimmer. Ich zog mich aus und schaute mir im Spiegel meine »Pipispalte« an. Es tat sehr weh, und noch immer fühlte ich mich irgendwie vollgestopft. Suchte irgendetwas, was Opa Hans dort wohl hineingetan haben könnte. Gefunden habe ich nichts, und hässlich fand ich es auch. Mein Zimmer lag genau über dem Nähzimmer, und ab dieser Nacht schlief ich dort nie mehr sorglos oder tief.
Ich konnte Opa Hans oft hören, wie er unten herumschlurfte, konnte das Knarren der Dielen hören oder das leise Rattern der Nähmaschine.
Ich ging nie mehr allein in den Keller, entwickelte eine Phobie gegen alle Keller dieser Welt.
Angefasst hat er mich nie mehr, und irgendwann fing ich an zu vergessen, warum ich nachts nicht schlafen konnte, vergaß, wieso mir so viele Geräusche Angst machten. Meine Mutter, besorgt über mein blässliches, ständig übermüdetes Aussehen, schleppte mich von einem Arzt zum anderen. Aber nie hatte ich Antworten auf die Fragen, wieso ich oft auf dem Boden schlief, im Kreise all meiner Puppen. Wieso ich eigentlich erst bei Morgengrauen zur Ruhe kam.
Als ich 13 wurde, waren sich alle einig, dass ich ein schwieriges, frühpubertierendes, unzugängliches Kind war, welches auf Grund des frühen Todes vom Vater unter stärksten Verlustängsten litt. Dabei lebte ich die ganze Zeit wie in der Umklammerung von Opa Hans, bewegungsunfähig, seine Hände an meinen Oberarmen. Nur sehen konnte es keiner mehr, und ich selber hatte es verdrängt und später auch vergessen.
Opa Hans: Ich wünschte, ich könnte dich noch an den Eiern packen und dir säuberlich alles abschnüren und abtrennen! († 1992)
DER ALTE HEINZ
Ab meinem 14. Lebensjahr war meine Teenagerzeit geprägt von zwei Dingen: zum einen von der Krebserkrankung meiner Mutter, der sie auch die Hälfte ihres rechten Beines opfern musste. Zum anderen von schier unendlich vielen Schulwechseln. Vom Gymnasium zur Hauptschule und weiter über alle Realschulen oder Ganztagsschulen, welche die nächstgelegene Stadt so hergab. Obwohl ich eigentlich eine gute Schülerin war, so war es doch diese unerklärliche Unruhe in mir, die mich hinderte, die nötige Ruhe und Konzentration zu finden. Ständig kämpfte ich mit Übermüdung und war unkonzentriert und fahrig. Ich schwänzte die Schule. Die meiste Zeit verbrachte ich aber nicht auf der Straße, wie bei Schulschwänzern so üblich, sondern bald auch bei dem alten Heinz.
Heinz Kohlke, Starkstrom-Alkoholiker aus Leidenschaft, Vater von neun Kindern und früh verwitwet, lebte in seinem kleinen Häuschen, das mehr an einen umgebauten Stall als an ein gemütliches Heim erinnerte. Von außen blätterte an allen Ecken und Kanten die ehemals weiße Farbe herunter, dicke, große, nasse Flächen an den Außenwänden zeugten von Schimmel in jedem Raum. Das Dach war in den Jahren undicht geworden, zudem war das Haus im Laufe der Zeit abgesackt und stand nach vorn gebeugt
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