Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
Vom Netzwerk:
Klopfstange war unser Treffpunkt, und während wir uns unterhielten und mit den Füßen im Schotter scharrten, in diesen würfeligen, weißen und weißgrau gesprenkelten Steinen, kletterte immer einer hinauf, um ein paar Kunststücke zu zeigen und sich dann wieder neben die anderen zu stellen, von denen fast jeder mit der Hand Verbindung zur Stange hielt. Gedränge entstand, wenn Sabine sich zu den Buben gesellte und bald selbst zu turnen begann, denn am Ende ihrer Vorführung hing sie immer kopfüber, um gekonnt und mutig zu schaukeln, und dabei fiel ihr Kleid, das sie mit den Armen an die Oberschenkel drückte, schließlich über ihren Kopf nach unten, was den Blick auf ihre geblümte Unterhose freigab, einen Blick, für den wir so lange ausgeharrt hatten und der uns doch nicht erlöste, sondern in sprachlose Gereiztheit versetzte und in meckerndem Gelächter davonlaufen ließ.
    Der andere Treffpunkt lag nicht im Garten, sondern an der Straße, beim Eck unseres Hauses, wo zwei runde, blecherne Mülltonnen standen. Zwei Mal in der Woche wurde die ganze Straße aus dem Schlaf gerissen, wenn ein anfahrender und gleich darauf abbremsender Lastwagen frühmorgens vor jedem Haus hielt und die lauten, ausgelassenen Männer der Müllabfuhr die scheppernden Mülltonnen zum Wagen rollten, sie entleerten und dann rumpelnd wieder auf ihren Platz beförderten. In die zwei Tonnen, die es für die achtzehn Parteien des Hauses gab, wurde gesteckt, was immer im Haushalt übrig geblieben war, Lackdosen, faulende Gemüsereste. Alles andere wurde verwertet und wiederverwendet – Konservendosen dienten als Behälter für Schrauben, Nägel, Haken, Knöpfe, mit den Zeitungen von vorgestern wurden die Schubladen der Kästen ausgelegt oder die Fenster geputzt, und Lebensmittel verdarben nicht, weil in andere Form gebracht und neu zubereitet wurde, was am Vortag nicht aufgegessen worden war. Hart gewordenes Brot weichte Mutter in Milch auf, um eine Speise zuzubereiten, die aus milchigem Brot, Eiern und Rosinen bestand.
    Bei den Mülltonnen endete mein Reich, erst als ich fast vier Jahre war, wurde diese Grenze aufgehoben, die ich, wenn ich allein spielte, nicht überschreiten durfte. Oft saß ich mittags dort, die Beine untergeschlagen, auf dem Deckel einer Mülltonne und hielt Ausschau, ob der Bruder, der mich im Stich gelassen hatte und Volksschüler geworden war, nicht endlich nachhause kam.

ICH LIEBTE DAS AUFWACHEN um des Weiterschlafens willen. Wenn die Sonne hinter dem Gaisberg aufging, kitzelte sie mich an der Nase, ich öffnete die Augen und sah, wie über die jetzt noch dunkle Bergkuppe, die tagsüber eine blaue Farbe annahm, die ersten Strahlen fielen. Abends fürchtete ich den Augenblick, da die Mutter ins Zimmer trat, durch nichts mehr zu erweichen war, die Lampe ausknipste und mich mit dem Tod allein ließ. Herrlich aber war es, früh am Morgen zu erwachen und es nach einem Blick hinaus in den beginnenden Tag für ein, zwei Stunden noch einmal mit dem Schlafen und Träumen zu probieren; oder mich gar in dem Zustand zu halten, der der kostbarste war und halb zum Schlaf, halb zum Wachsein gehörte, ein Zustand, in dem ich es manchmal zu einer Art von vorsätzlichem, gesteuertem Träumen schaffte.
    Ich erwachte, aber dieses Mal war etwas anders. An dem Tischchen beim Fenster saß der Bruder, das Buch vor sich, von dem er mir verboten hatte, dass ich es in die Hand nahm. Seit ein paar Wochen ging er zur Schule, nun saß er da im aufgehenden Morgen des Lesens, still und reglos, nur dass er die Finger langsam über die Zeilen des Buches gleiten ließ und mit den Lippen stumme Worte formte. Er war ganz abweisende Aufmerksamkeit, und wie geduldig er mir sonst Auskunft zu geben pflegte über alles, was er schon wusste und ich von ihm wissen wollte, so streng in sich verschlossen war er nun, da er unansprechbar und unerreichbar schien in seiner anderen Welt, zu der ich mir meinen Zugang noch erkämpfen musste. Es war ein gelbes Buch, auf dessen Titelblatt sich viele Kinder an den Händen hielten und im Ringelreihen um die beiden Wörter drehten, die rätselhaft, gebieterisch und verheißungsvoll in ihrer Mitte standen und von denen das eine »Meine« und das andere »Fibel« hieß. In diese Fibel durfte ich nur blicken, wenn der Bruder danebensaß und er es war, der die Seiten umblätterte; dann erklärte er mir manchmal, worum es bei den einzelnen Bildern ging und was die schwarzen Zeichen bedeuteten.
    Die Geschichte spielte in einem

Weitere Kostenlose Bücher