Das Erste, was ich sah
Erkrankung, dass der Patient in seinem Bett möglichst viele und möglichst nahrhafte Speisen zu sich nehmen sollte, wurde schwere Krankheit doch mit erlöschendem Appetit, mit todbringender Auszehrung verbunden. War ich allein, lugte sie auf Zehenspitzen zur Tür herein, ob ich etwas benötigte, es war ein Spiel zwischen uns, dass ich, wenn ich sie hörte, den Entkräfteten spielte, der bewusstlos lag, und sie dann besorgt näher trat, um mir die Hand auf die heiße Stirn zu legen, worauf ich lachend auffuhr. Alle aus der Familie waren so nachsichtig und so gut zu mir, der ich jetzt nicht nur der Jüngste, sondern auch krank und schwach war, dass mir nichts anderes übrigblieb, als sie später, wieder genesen und älter geworden, alle zu enttäuschen, nicht alle auf einmal, aber jeden, nach und nach.
Den ganzen Sommer über lag ich im Bett, die Freunde durften mich nicht besuchen, denn die Tuberkulose galt als ansteckend, auch wenn es die Form, die ich mir zugezogen hatte, gar nicht war. Ich lag schwitzend, wurde verwöhnt, hörte von draußen die Rufe der Freunde, die auf der Wiese tollten, unter deren Rasen ich doch nicht begraben wurde. Wenn ich sie hörte, musste ich manchmal mit den Tränen kämpfen, aber in dem großen Bett lag etwas zu beiden Seiten meines Körpers, das ich immer wieder in die Hand nehmen konnte, mit dem ich, in meinem Bett liegend, zugleich viel weiter weg war als bloß auf dem Acker, auf dem die Freunde kickten, etwas, mit dem ich tagsüber immer wieder einschlief, um in meinen Träumen bei ihm zu bleiben, und mit dem ich aufwachend sogleich weitermachte. Um meinen abgemagerten Körper lagen lauter Bücher, die von Entdeckungsreisen, Rittern, Indianern, von bösen Erwachsenen und tapferen Kindern handelten. Um mich, der ich schwitzte, weil ich zwei Monate unablässig Fieber hatte, lagen die Bücher. Denn etwas war in den zwei Jahren zuvor geschehen, das mein Leben veränderte und ihm die Richtung wies: Ich konnte jetzt lesen.
Über den Autor
Karl-Markus Gauß,
geboren 1954 in Salzburg, wo er heute als Autor und Herausgeber der Zeitschrift
Literatur und Kritik
lebt. Seine Bücher wurden in etliche Sprachen übersetzt und oftmals ausgezeichnet. Bei Zsolnay erschienen zuletzt
Im Wald der Metropolen
(2010) und das Journal
Ruhm am Nachmittag
(2012).
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