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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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Dorf, dessen Hauptplatz auf einer der ersten Seiten abgebildet war, mit der Kirche, dem mächtigen Kastanienbaum, der Volksschule, dem Geschäft und dem Gasthaus Zur Sonne. In der Mitte war ein Brunnen zu sehen, aus dem ein Mädchen mit blonden Haaren und seine Mutter Wasser schöpften. Vor dem Gasthaus tätschelte ein Bauer einer Kuh, die eine Glocke um den Hals hatte, den Rücken. Im Ort gab es keine Autos wie bei uns in der Siedlung, nicht einmal Fahrräder, aber viele Kinder, die herumtollten, und ein paar Männer, die mit Schubkarren und Rechen hinaus aufs Feld zogen. Zwei Alte gingen am Stock auf das Gasthaus zu, der eine mit einer Pfeife im Mund, und zwei Omas, die das Kopftuch unter dem Kinn verknotet hatten, stiegen gerade die Treppen zur Kirche hinauf.
    Da ist Hansi. Da ist sein Vater. Hansi hat eine Lederhose und ein rot-weiß kariertes Hemd an, auch ich habe eine Lederhose, sie ist speckig, glatt, in allen Schattierungen von hellem zu dunklem Braun, nicht eine von diesen neuen grauen, aufgerauhten Hosen, auf die man aufpassen muss, damit sie nicht schmutzig werden. Aus der Lederhose ist der Bruder herausgewachsen, jetzt bin ich es, der ein paar Jahre lang in sie, die bei den Knien umgeschlagen ist, hineinwachsen wird. Hansis Vater hat eine blaue Arbeitshose und schwarze Gummistiefel an und trägt über der Schulter eine Sense, ich kann mir nicht vorstellen, wie es mein Vater anstellen könnte, eine Sense zu tragen, er hat auch gar keine Arbeitshose und keine Stiefel. Und da ist Liesi. Sie hat ein blaues Röckchen an und hält eine Puppe wie einen Säugling im Arm, ihr Gesicht wird von zwei langen Zöpfen gerahmt. Sie ist jünger als ihr Bruder Hansi, der gerade lesen lernt wie mein Bruder, bei uns bin ich der Jüngste, nach mir wird keiner mehr kommen, der in die Lederhose hineinwächst. Und da ist die Mutter. Ihre blonden Haare müssen sehr lang sein, denn sie hat sie in Zöpfen mehrfach fest um den Kopf gewunden, sodass ein richtiger Kranz daraus wurde, meine Mutter trägt ihre Haare offen, sie sind schwarz, richtig schwarz.
    Später lernt Hansi Ski fahren, und Liesi fällt von der Rodel. Einmal wird Hansi krank, dann kommt der Doktor und ermahnt ihn, brav die Arznei zu schlucken, die ihm die Mutter mit dem Löffel reicht. Zu Fronleichnam darf Liesi mit den anderen Mädchen im weißen Kleid der Prozession voranschreiten und Blumen auf den Weg streuen. Die Buben müssen dem Pfarrer und der Monstranz, die über die Felder um das Dorf herumgetragen wird, hinterhergehen, aber am Schluss der Geschichte sind es doch sie, die als Ministranten bei der Messe vorne am Altar stehen dürfen.

HATTE KEINER ZEIT FÜR MICH , verteilte ich meine Bilderbücher wie Inseln im Meer der Langeweile auf dem Boden. Ich schwamm durch das Bubenzimmer von einer zur anderen, meist ging ich bei dem bewährten grünen Buch an Land. Auf dem Titelblatt war ein roter Luftballon zu sehen, an dem ein hoch in den Lüften schaukelnder Korb hing. In ihm stand ein dicker Mann, dessen schwarzer, drahtiger Bart das halbe Gesicht bedeckte, und hielt mit einem Fernrohr Ausschau nach blonden Kindern. Ich wusste, er wollte sie stehlen und ins Morgenland verschleppen, wo er schon ein Palastgefängnis voll von ihnen hatte. Ich kannte das Buch längst auswendig, doch es verlangte mich immer noch, von Mutter daraus vorgelesen zu bekommen, und wenn sie schwindelte und eine Stelle übersprang, fiel ich ihr ins Wort und sprach ihr vor, wie sie wirklich ging, die Geschichte vom kleinen Fritz und dem bösen Hatschi Bratschi. War ich allein, schlug ich das Buch an irgendeiner Stelle auf, betrachtete die Bilder, die so detailreich waren, dass ich jedes Mal etwas Neues entdeckte, und sprach laut für mich die Verse, die ihren Reiz und ihren Schrecken nie verloren, denn die Wiederholung schwächte meine Empfindungen nicht ab, sondern erlaubte mir, sie vorauswissend zu genießen.
    »Wie sprach die Mutter? Liebes Kind,
    Sei brav, wie andre Kinder sind,
    Und bleibe schön bei mir zu Haus.
    Fritz aber lief zur Tür hinaus.«
    Ich liebte diesen Anfang einer Geschichte, die mich ängstigen, am Ende aber mit einem Triumph belohnen würde, ich kannte keine Geschichte, die besser angefangen hätte, und eigentlich wünschte ich, nur solche zu hören, die begannen wie sie. Grün war die Wiese, grün der Hut mit der Feder, den Fritz am Kopfe trug, aus dem Schornstein seines Mutterhauses rauchte es gemütlich in den Himmel, und während sich Fritz jauchzend und springend

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