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Das Erste, was ich sah

Das Erste, was ich sah

Titel: Das Erste, was ich sah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Markus Gauß
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Landes namens Uruguay war, das jenseits des Ozeans in Südamerika lag. Eine Zeitlang malte ich mir beim Einschlafen aus, wie ich, wenn ich groß wäre, nach Montevideo reisen, Marita aus den Fängen einer Gangsterbande befreien und ihrer Mutter zurückbringen würde, die meinetwegen ihre großen Sonnenbrillen abnahm und mich, weinend vor Glück und Dankbarkeit, mit ihren behandschuhten Händen an sich drückte.

UND DANN WURDE ICH KRANK . Ich stand im Lebensmittelgeschäft Pfaff, auf einmal sagte die kleine, sonst so barsche Besitzerin zu mir: »Wie siehst du denn aus?« Mir wurde schwarz vor Augen, und ich begann zu zittern. Herr Pfaff führte mich die zweihundert Meter nachhause, und während wir gingen, schlotterte ich am ganzen Leib so heftig, dass er seine Hand um meine Schultern legte. Beim Hochhaus läutete er und übergab mich der Mutter, der er die Tasche, gefüllt mit den eingekauften Lebensmitteln, aushändigte. Ich wurde ins Bett gesteckt, der bewährte Landsmann der Eltern kam mit seiner bauchigen Arzttasche und schüttelte den Kopf, und nach ihm erschien der bekannte Kinderarzt Muralter. Er schüttelte besorgt den Kopf, und mit dem Taxi, mit dem wir uns sonst nur alle paar Jahre chauffieren ließen, fuhr meine Mutter mit mir zum berühmten Lungenarzt, einem freundlichen Witwer, der auf den Bällen der Heimatvertriebenen als flotter Tänzer auftrat und als Galan galt. Er konstatierte, dass ich eine Rippenfellentzündung, vor allem aber etwas hatte, das nach Tod klang, Tuberkulose. Ein paar Jahre vorher war der Bruder meines Vaters daran gestorben, und als ich das Wort hörte, sah ich mich bereits die Glieder auf dem Sterbebett ein letztes Mal ausstrecken.
    Nun sollte ich also doch so jung sterben! Auf der Heimfahrt musste mir Mutter versprechen, dass ich auf der großen Fußballwiese hinter dem Haus begraben würde. So fromm ich war, hatte mir die Kirche keine Tröstung zu bieten, lehrte sie doch, dass das Jüngste Gericht erst am Ende aller Tage abgehalten werde und auch die Guten nicht unverweilt in den Himmel auffahren würden, sondern nach unausdenkbar langer Zeit. Eine einzige quälende Nacht allein im finsteren Grab zu liegen, schien mir unentschuldbar grausam zu sein, ein Jahr lang, Millionen Jahre unvorstellbar. Unter der Wiese zu liegen, auf der die Freunde dem Ball nachjagten, verhieß mir mehr Leben als die Auferstehung in ferner Ewigkeit, obwohl auch die Wiese nicht immer belebt war, sondern sonntags, an Regentagen und im Winter verlassen lag und dann auch ich verlassen in meinem Grab würde warten müssen.
    Jeden Tag kam der Arzt ins Haus und verabreichte mir eine Spritze, und jeden Tag musste ich eine Handvoll Tabletten schlucken. Nach zwei Wochen war ich mir sicher, den Sommer doch zu überleben und eines Tages wieder hinauszulaufen auf meine Wiese, und damals begann ich die Krankheit, die keine Schmerzen verursachte, zu schätzen. Die ältere Schwester war bereits weggezogen, besuchte mich aber regelmäßig, saß an meinem Bett und erzählte mir stundenlang von der großen Stadt, in der sie nach den Sommerferien wieder studieren würde. Die jüngere, die in einem Textilgeschäft in unserer Stadt arbeitete, setzte sich, kaum dass sie zurück war, zu mir und spielte mit mir ein neuartiges Spiel, für das die Verlängerungsplatte des Küchentisches über das Bett gelegt wurde, damit wir zahllose kleine quadratische Kärtchen auf ihr verteilen konnten. Memory hieß das Spiel, bei dem es darum ging, unter vielen gut gemischten und auf der Rückseite allesamt gleich aussehenden Karten durch Schulung des Gedächtnisses jene zwei herauszufinden, deren Bilder auf der Vorderseite ein Paar ergaben. Der Bruder berichtete mir, was sich draußen, in der Welt der Freunde, tat, und wie er es berichtete, schien das der langweiligste Sommer aller Zeiten zu sein, für den es sich fast nicht lohnte, die Wohnung zu verlassen. Und Vater erzählte mir, was ich von ihm am liebsten hörte, die tragischen Lebensgeschichten der Genies, wie die von Branko Radičević, dem serbischen Jüngling, der Gedichte verfasste, so schön, dass die Frauen in Tränen ausbrachen, und der nur 24 Jahre alt war, als er verlassen, unbekannt und arm sterben musste, aber dessen Gedichte sich noch heute die Verliebten in Serbien vortrugen, wenn sie abends in einem sommerlichen Park spazieren gingen. Mutter reichte mir in kleinen Schalen und Schüsseln fortwährend Köstlichkeiten, denn für die Donauschwaben galt bei jedweder

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