Das Erste, was ich sah
auf und wollte mich tragen, was mir unangenehm war. Dauernd umarmte und herzte sie mich, was ich nicht ungern ertrug, solange niemand uns sehen konnte, und mich in die Flucht trieb, wenn andere dabei waren. Sie riefen »Butzi, Butzi«, wenn Sabine mich bemutterte, und obwohl ich den Vorteil, der Jüngste zu sein, in der Familie schon zu schätzen gelernt hatte, kränkte es mich, wenn mir die Bevorzugung, auf die ich Anspruch hatte, mit öffentlichem Spott entgolten wurde.
Sabine hatte einen brünetten Bubikopf, war geschickt und zielstrebig, sie entschied, dass wir heiraten sollten, wenn wir erwachsen wären, und ich zur Hochzeit einen Hut tragen müsste, weil ich kleiner war als sie. Sie malte sich die Dinge mit praktischer Phantasie aus, nach dem Vorbild ihrer Mutter, die ihren Mann, einen verschlossen über seinen Kriegserlebnissen brütenden Angestellten, bemutterte und bevormundete und dabei doch sorgsam darauf achtete, dass er nicht in den Ruf geriet, einer jener Waschlappen zu sein, auf den keine Ehefrau stolz sein konnte.
Sabine wohnte im fünften, ich im vierten Stock. Die Tür des Lifts war dunkelgrün, trug das bronzene Firmenschild »Sowitsch Aufzüge« und hatte in der Mitte einen schmalen Streifen aus dickem Glas, durch den man in die Kabine sah. In ihr war die Tafel angebracht: »Ruhig halten, bis der Lift hält.« Drückte ich mich in der Kabine an die der Tür entgegengesetzte Wand, erlosch, weil ich nur geringes Gewicht hatte, bald das Licht, sodass er von einem anderen Stockwerk aus gerufen werden konnte. Wenn ich nach dem Spielen müde war, stellte mich Sabine ganz hinten in die Kabine, sauste in den Zwischenstock von vierter und fünfter Etage hinauf und drückte dort den Knopf, sodass der Lift mit leisem Seufzen ruckelnd anfuhr. Kaum dass er stehen bleibt, reißt sie die Tür auf, reckt mir ihre Arme entgegen und sagt in seligem Besitzerstolz: Du bist ja schon wieder größer geworden! Dann nimmt sie mich an der Hand, führt mich die sieben Stufen zu unserer Wohnung hinunter und übergibt mich der Mutter.
Ich hasste und liebte es, von ihr umsorgt zu werden, sie war mir angenehm und peinlich, in dem, was sie mir bedeutete, lagen Glück und Verrat nahe beisammen. Als ich in die erste Klasse der Volksschule kam, in der sie zwei Klassen über mir war, gestattete ich es ihr noch, meine Schultasche zu tragen, aber nur durch die Siedlung bis zur Kreuzung, an der die Bäckerei stand und die Schulkinder aus drei Richtungen zusammentrafen. Diesen wollte ich nicht zeigen, dass mir die Tasche von einem Mädchen getragen wurde, und darum schnappte ich sie mir beim Eck vor der Kreuzung immer selbst und ließ Sabine grußlos stehen. Nach Schulschluss wartete sie verlässlich am Eck hinter der Bäckerei, und ich war erleichtert, wieder jemanden zu haben, der auf mich achtete, ohne dass ich mir seine Zuneigung erst hätte verdienen müssen. Es gab Menschen, die mich verwöhnen wollten, und Sabine lehrte mich, dass das eine Sache zwischen ihnen und mir war, die die Welt nichts anging.
BEVOR ICH AUF DIE WELT kam, saß ich am Milchbrunnen, hoch oben zwischen den Sternen, und wartete darauf, zu meinen Eltern gebracht zu werden. Die Kinder im Haus, die in Unwissenheit gehalten wurden, erzählten sich andere Geschichten von ihrem Herkommen, sie glaubten an den Storch oder behaupteten sogar, im Bauch ihrer Mutter gebacken worden zu sein. Vielleicht gab es ja verschiedene Möglichkeiten, in die Welt zu gelangen, sodass nicht alle Kinder von den Sternen stammten und sich so wie ich am Brunnen, in dem die Milch plätscherte, gelangweilt und danach gesehnt hatten, geboren zu werden.
Manchmal quälte mich das bange Gefühl, dass alles ein Irrtum gewesen und ich vom Milchbrunnen zu den falschen Eltern gebracht worden war. Irgendwo lebten ein Mann und eine Frau, die mich ausgesucht und niemals erhalten hatten, sie schauten in der Nacht zu den funkelnden Sternen hinauf und warteten, dass ich auf einer Wolke, einem Nebelstreif vorbeigebracht wurde; und da ich nie ankam, wurden sie traurig und machten sich auf die Suche und würden mich, wenn sie mich bei meinen Eltern und Geschwistern anträfen, gewiss für sich beanspruchen und mitnehmen wollen. Darum betete ich, Gott möge die richtigen Eltern, wenn es sie gab, nie zu mir finden, und die meinen, wenn sie die falschen waren, nie hinter ihren Irrtum kommen lassen.
VIEL ZU FRÜH IN DER FRÜH begann es zu donnern und zu knallen, ein dumpfes, dann helleres Schlagen hallte
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