Das Evangelium nach Satan
verschlängen. Nachdem er Satan in die Tiefen des vom ewigen Abgrund nicht vorgesehenen chaotischen Universums verbannt hatte, wandte er sich von seiner Schöpfung ab, und so war nur noch Satan da, um die Menschen zu peinigen.«
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»Valentina, hören Sie mich?«
Sie will Crossman antworten, bringt aber kein Wort heraus. Als sie sieht, dass Pater Carzo auf den Papst zielt, drückt sie mechanisch auf den Sprechknopf ihres Funkgeräts: »An alle, Achtung – er hat eine Knarre!«
Obwohl sie laut gesprochen hat, geht ihr Warnruf im unwilligen Murren der Menge unter. Der Kommandant der Schweizergarde legt auf den Mönch an. Aus den Seitenschiffen der Basilika versuchen weitere Gardisten in Zivil, über die Köpfe der Menge hinweg Carzo ins Visier zu bekommen. Die Männer mit den Hellebarden vor dem Altar drehen sich um. Der Papst blickt auf. Er wirkt verunsichert. Valentina begreift, dass es zu spät ist.
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Der Exorzist sieht zum Antichristen hinüber. Wie könnte er ihn auf diese geringe Entfernung verfehlen? Weihrauch brennt ihm in der Nase. Draußen haben die Glocken wieder eingesetzt, ihr Klang begleitet die Verkündung der ungeheuerlichen Enthüllungen. Carzo hat das Gesicht des Papstes im Visier. Er nimmt den Kommandanten der Schweizergarde kaum wahr und achtet auch nicht auf die hübsche Frau, die sich rechts von ihm durch die Menge drängt. Höchstens geht ihm einen Augenblick lang der flüchtige Gedanke durch den Kopf, auf welch sonderbare Weise sie Maria ähnelt. Pater Carzo gibt Schuss auf Schuss ab, bis das Magazin leer ist. Kaum spürt er die Kugeln der Schweizergardisten, die ihn in der Seite und im Unterleib treffen.
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Totenstille liegt über der Basilika. Mit nach wie vor erhobenen Armen sieht der Papst auf die Waffe hinab, die der Mönch auf ihn gerichtet hält. Er nimmt wahr, dass der Kommandant der Schweizergarde auf diesen zuspringt, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern und dass sich der Camerlengo nähert, um sich als Kugelfang vor den Papst zu stellen. Aus den Augenwinkeln sieht er, dass Gardisten in Zivil ihre Waffe ziehen, wie auch, dass eine junge Frau laut schreiend die Menge vor sich zerteilt. Vor allem aber sieht er die Augen des Mönchs, die ihn anstarren. Ihm geht auf, dass dort nicht Kaleb steht. Ein Blick nach links. Der Camerlengo ist nur noch einen Schritt entfernt, als eine Serie von Schüssen durch die Basilika hallt. Während die Kugeln seine Brust treffen, sieht der Papst mit weit aufgerissenen Augen, wie Carzo lächelt.
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Unmittelbar neben dem Altar bricht der Papst im selben Augenblick zusammen wie der Camerlengo, den eine Kugel im Hals getroffen hat. Carzo, der in einer Blutlache auf dem Marmorboden liegt, lächelt nach wie vor. Er spürt nichts. Die Glocken hoch über ihm sind verstummt.
Wie in einem Traum hört er ferne Rufe, Befehle und herbeieilende Schritte, doch alles wie in Zeitlupe. Er spürt das Murren der Menge, das sich wie die Brandung eines wütenden Meeres nähert und wieder entfernt. Er sieht Polizeiuniformen. Ein Luftstrom, ein Aufblitzen von Licht, man hat die Türen weit geöffnet, um die Menge hinauszulassen, die in wilder Flucht davonstürmt.
Carzo sieht das vor Wut verzerrte Gesicht des Kommandanten der Schweizergarde, den ein Polizeibeamter festnimmt. Befehle ertönen. Der Hüne weiß, dass sein Spiel aus ist. Langsam kniet er nieder, legt seine Waffe auf den Boden und verschränkt die Hände hinter dem Nacken.
Eine Bewegung. Ein Hauch von Parfüm. Ein Atemzug streift Carzos Wange. Er betrachtet das von braunen Locken umrahmte Gesicht, das sich über ihn beugt. Dann schließt er die Augen und spürt, wie sich die Blutlache unter seinem Rücken ausbreitet. Es kommt ihm vor, als ströme er selbst aus seinem Körper hinaus: sein Leben, seine Kraft, seine Erinnerungen und seine Seele. Hände rütteln ihn. Er ist entsetzlich müde. Er öffnet die Augen wieder und sieht, wie sich die Lippen der jungen Frau bewegen, während in einer Abfolge ferner Echos eine wohlklingende und zugleich ernste Stimme zu ihm dringt. Sie will wissen, wo Maria ist. Carzo konzentriert sich. Eine flüchtige Erinnerung treibt an die Oberfläche seines Gedächtnisses. Ein finsteres Gelass, ein weißes Gesicht, Tränen, die im Schein einer Kerze glänzen. Der Priester spürt, wie sein Mund die Antwort bildet. Die junge Frau lächelt ihm zu. Sie sieht aus, als ob sie glücklich sei. Er schließt die Augen. Maria fehlt ihm.
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Ein großes Polizeiaufgebot
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