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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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den Lautsprechern, als er laut und vernehmlich vorliest: »Initium libri Evangelii secundum Satanam.«

28
    Ein heilloses Tohuwabohu entsteht in den Übertragungswagen und Fernsehstudios. Dutzende von Stimmen reden in den Kopfhörern der Sprechgarnitur der Journalisten durcheinander.
    »Großer Gott, was hat er da gesagt?«
    In einem Studio der RAI flüstert ein völlig fassungsloser Spezialist in sein Mikrofon: »Wenn mich mein Schullatein nicht im Stich lässt, bedeutet das, was der Papst da soeben gesagt hat: ›Hier beginnt das erste Buch des Satansevangeliums‹.«
    Die Produzenten stürzen ans Telefon und erkundigen sich, wie hoch die Zuschauerbeteiligung ist. Auf Bildschirmen zeigen Kurven steil nach oben. Alles in allem hängen jetzt mindestens vierhundert Millionen Fernsehzuschauer an den Lippen des neuen Papstes. Die Studioleiter der CBS und der RAI wollen von ihren Intendanten wissen, ob sie die Übertragung abbrechen oder fortsetzen sollen.
    Während der Intendant der RAI noch überlegt, sagt der für die CBS Zuständige, nachdem er sich eine Zigarre angesteckt hat: »Dranbleiben.«
    Nach einer Weile erteilt auch der italienische Intendant seinen Leuten die gleiche Anweisung, die von diesen sogleich an die Übertragungswagen wie auch an die Kameraleute innerhalb der Basilika weitergegeben wird.

29
    Erneut erhebt sich die Stimme des Papstes unter der Kuppel. Er beginnt mit der Lesung des Evangeliums.
    »Sechstes Orakel aus dem Buch der Flüche.«
    Stille. Eine Kamera der RAI zeigt den Mund des Papstes in Großaufnahme.
    ∗ ∗ ∗
    »Im Anfang schuf der ewige Abgrund, der Gott aller Götter, die Tiefe, aus der alles entstanden ist, sechs Milliarden Universen mit der Aufgabe, das Nichts zurückzudrängen. Dann gab er jedem dieser sechs Milliarden Universen ein Sonnen-und ein Planetensystem, er gab ihnen Seiendes und Nichtseiendes, Fülle und Leere, Licht und Finsternis. Daraufhin stattete er sie mit dem höchsten Gleichgewicht aus, das dafür sorgt, dass etwas nur dann existieren kann, wenn sein Gegenteil zugleich mit ihm existiert. Auf diese Weise ist alles aus dem Nichts des ewigen Abgrunds hervorgekommen. Und da alles Seiende mit dem zugehörigen Nichtseienden verbunden war, herrschte in allen sechs Milliarden Universen vollkommene Harmonie.«
    ∗ ∗ ∗
    An vielen Stellen in der Basilika hört man Schluchzen. In der Nähe des Altars sinkt eine Nonne ohnmächtig zu Boden. An den Türen entsteht lärmendes Durcheinander. Männer der Schweizergarde und Sanitätshelfer geleiten verstörte Pilger und Frauen hinaus, die einen Schwächeanfall erlitten haben. Erneut zoomen die Kameras auf den Papst, dessen leuchtende Augen kurz auf der Menge verweilen. Er liest weiter:
    ∗ ∗ ∗
    »Doch damit all diese zahllosen Dinge des Seienden wie des Nichtseienden ihrerseits eine Vielfalt an Dingen hervorbringen konnten, die Leben erschaffen würden, brauchten sie etwas, das absolutes Gleichgewicht zu erzeugen vermochte, das Gegenteil von Gegenteilen, Urgrund alles Seienden wie alles Nichtseienden, des Guten wie des Bösen.
    Daher schuf der ewige Abgrund das Über-Seiende, das höchste Gute, und das Über-Nichtseiende, das äußerste Böse.
    Das Über-Seiende nannte er ›Gott‹, und das Über-Nichtseiende ›Satan‹. Dann verlieh er den Geistern der großen Gegensätze den Willen, auf alle Zeiten gegeneinander zu kämpfen, um die sechs Milliarden Universen im Gleichgewicht zu halten. Als sich endlich alles zusammenschloss, ohne dass je etwas das Gleichgewicht störte, sah der ewige Abgrund, dass es gut war, und schloss sich. So vergingen tausend Jahrhunderte in der Stille der Universen, die immer größer wurden.«
    ∗ ∗ ∗
    Als der Papst umblättert, hört man in den Lautsprechern das Rascheln des Pergaments. Er fährt fort:
    ∗ ∗ ∗
    »Aber leider erreichten eines Tages Gott und Satan, denen es allein überlassen war, diese sechs Milliarden Universen zu lenken, einen so hohen Stand des Wissens und der Langeweile, dass Ersterer, entgegen der ausdrücklichen Weisung des ewigen Abgrunds, in seinem eigenen Namen ein weiteres Universum schuf. Wegen dessen Unvollkommenheit bemühte sich der Satan mit allen Mitteln, es zu vernichten, damit nicht dies sechsmilliardenunderste Universum die Ordnung aller anderen Universen zerstörte, weil es zu ihm kein Gegenteil gab.
    Da sich der Kampf zwischen Gott und Satan nicht mehr auf das Innere dieses Universums beschränkte, wie es der ewige Abgrund vorgesehen

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