Wie entführt man einen Herzog?
1. KAPITEL
In der Bibliothek war es so still, dass Penelope Winthorpe deutlich hören konnte, was im Haus vorging. Gerade läutete es an der Vordertür. Sie legte ihr Buch beiseite, schob ihre Brille zurecht und strich mit den Händen glättend über ihren dunklen, einfach geschnittenen Rock. Dann erhob sie sich und ging langsam in Richtung der Eingangshalle.
Sie wusste, dass es sinnlos, ja, unter Umständen sogar nachteilig gewesen wäre, sich zu beeilen. Ihr Bruder hatte ihr mehr als einmal vorgeworfen, zu impulsiv zu sein und allzu oft zu vergessen, sich wie eine Dame zu benehmen. Wenn er sie rasch zur Tür laufen sähe, würde ihn das nur in seiner Überzeugung bestärken, dass zu viel Bildung und zu viel Einsamkeit ihr geschadet hätten.
Allerdings fiel es ihr schwer, ihre Ungeduld zu bezähmen, denn das Paket, auf das sie so sehnsüchtig wartete, hätte schon vor zwei Tagen kommen sollen. In Gedanken hielt sie es bereits in den Händen; hörte, wie das braune Papier, in das es eingeschlagen war, knisterte; ließ die Finger über die Schnur gleiten, mit der es verschlossen war. Sie würde diese Schnur gleich in der Eingangshalle durchschneiden, wo auf einem Beistelltisch stets eine Schere lag. Dann würde sie das Buch auspacken, es endlich berühren können. Sie stellte sich vor, wie sie den Duft nach frisch bedrucktem Papier tief einatmen, wie sie den ledernen Einband betasten und schließlich den in goldenen Buchstaben gedruckten Titel lesen würde.
Dann erst würde der beste Teil des Ganzen beginnen: Sie würde das Buch in die Bibliothek tragen und die Seiten aufschneiden. Sie würde sie ein wenig glatt streichen und so rasch umblättern, dass sie nur hier und da ein Wort entziffern konnte. Nicht einen einzigen Abschnitt würde sie lesen, dann das hätte womöglich die Vorfreude auf das Studium des Werks gemindert. Zu guter Letzt würde sie nach Tee läuten, sich in ihren Lieblingssessel am Kamin setzen und mit dem Lesen beginnen. Himmlisch!
Als Penelope in die Eingangshalle trat, fand sie ihren Bruder dort vor. Er war damit beschäftigt, die Post zu sortieren. Ein Paket schien nicht dabei zu sein.
„Hector, ist nichts für mich abgegeben worden? Ich hatte eigentlich schon früher mit der Lieferung gerechnet, aber …“ Sie zuckte die Schultern. „Vielleicht ist das Päckchen ja mit der heutigen Post eingetroffen?“
„Du wartest auf ein Buch?“ Er seufzte.
„Ja, auf die ‚Odyssee‘.“
Hector Winthorpe warf seiner Schwester einen kurzen Blick zu. „Die ‚Odyssee‘? Ach ja, die ist gestern abgeliefert worden. Ich habe sie an den Buchhändler zurückgeschickt.“
Ungläubig starrte sie ihn an. „Was hast du gemacht?“
„Das Paket zurückgeschickt. Ich weiß, dass du bereits eine Ausgabe der ‚Odyssee‘ besitzt. Es gibt also keinen Grund, Geld für eine zweite auszugeben.“
„Du irrst“, gab Penelope zurück. „Ich besitze nur eine englische Übersetzung, nicht aber das griechische Original.“
„Ein Grund mehr, das Buch zurückzuschicken. Es dürfte bedeutend leichter für dich sein, das Werk in deiner Muttersprache zu lesen.“
Sie atmete ein paar Mal tief durch und bemühte sich, bis zehn zu zählen, ehe sie etwas Unüberlegtes von sich gab. Sie war bei fünf angekommen, als sie sich nicht länger beherrschen konnte, und hervorstieß: „Die griechische Sprache bereitet mir keine Probleme. Ich lese sie fast so flüssig wie Englisch. Tatsächlich habe ich vor, eine eigene Übersetzung der ‚Odyssee‘ anzufertigen und zu veröffentlichen. Dazu brauche ich natürlich das griechische Original. Das wirst du sicher einsehen.“
Hector starrte sie an, als seien ihr plötzlich Hörner aus der Stirn gewachsen. „Es gibt genug gute Homer-Übersetzungen zu kaufen.“
„Aber keine davon wurde von einer Frau verfasst. Das heißt, bisher wurden beim Übersetzen niemals irgendwelche weiblichen Einsichten und Erkenntnisse berücksichtigt. Daher nehme ich an, dass meine Version eine ganze Reihe neuer Facetten des Originals zum Vorschein bringen wird.“
„Unsinn!“, fuhr ihr Bruder auf. „Die Welt braucht deine Einsichten und Erkenntnisse nicht, Penny. Das solltest du eigentlich wissen.“
Einen Moment lang fühlte Penelope sich entmutigt, denn die Erfahrung hatte ihr gezeigt, dass wirklich niemand Wert auf ihre Meinung legte. Doch dann straffte sie die Schultern und erklärte: „Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu beweisen, wie gut ich übersetzen
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