Das Evangelium nach Satan
verzehrt.
Giovanni hat das Gefühl, vollständig allein zu sein. Er sieht, wie sich die Fackel ganz hinten rechts im Raum neigt. Sie entzündet eine zweite Fackel, woraufhin das Feuer, ohne dass Mendoza einen Finger rühren müsste, von selbst an den Wänden entlangläuft und dank eines ausgeklügelten Systems miteinander verbundener, in Wachs getränkter Dochte Fackel auf Fackel entzündet.
Giovanni sieht, dass der Raum weit größer ist, als er angenommen hatte. Er enthält scheinbar endlose Reihen steinerner Tische, auf denen allerlei Gegenstände liegen, die nicht zu erkennen sind, weil schwere rote Tücher sie bedecken. Nach und nach verdrängt Wachsgeruch in der Luft den modrigen Geruch nach Steinen, Moos und vor allem nach längst vergangenen Zeiten. Als Mendoza, der mitten im Raum steht, ihm ein Zeichen macht, tritt Giovanni zu ihm. Der Alte nimmt ihm die Handschrift aus den Händen, hebt eins der Tücher an und lässt es gleich wieder fallen, als er sie darunter geschoben hat. Dabei steigt eine Staubwolke auf. Giovanni hatte gerade genug Zeit zu sehen, dass dort weitere Bücher liegen. Sie scheinen stark zerlesen zu sein.
»Was wird in diesem Raum aufbewahrt?«
»Erinnerungen. Alte Steine. Überreste des wahren Kreuzes. Archäologische Funde aus untergegangenen Kulturen und Zeugnisse einer sehr alten Religion, die man in prähistorischen Höhlen gefunden hat. Sie stammen von den Menschen, die Gott geschaffen haben.«
Schweigen.
»Was noch?«
»Handschriften. Apokryphe Evangelien, welche die Kirche viele Jahrhunderte hindurch geheim gehalten hat. Das Evangelium Marias sowie das des dreizehnten Apostels Matthias. Außerdem das Josephs-und das Jesus-Evangelium.«
»Es gibt ein Jesus-Evangelium? Was steht darin?«
»Sie werden es bald erfahren, denn Sie werden der Nächste sein.«
Giovanni zittert. Es sind dieselben Worte, die ihm der sterbende Camerlengo in der Basilika zugeflüstert hatte. »Was meinen Sie damit?«
»Der nächste Papst.«
»Das kann nun wirklich niemand voraussagen.«
»Aber gewiss doch. Sie sind noch so jung, und ich bin schon so alt! Die meisten Kardinäle sind so von Angst und Entsetzen erfüllt, dass es nicht schwerfallen wird, sie zu überzeugen. Sie werden sehen. Man wird Sie zum nächsten Papst wählen. Dann werden Sie es erfahren … alles.«
»Ein Papst, der über Asche herrscht, nicht wahr?«
»Das haben bisher alle getan, Patrizio.«
Kardinal Mendoza betätigt einen Hebel. Rings um den Raum senken sich über ein System von Seilen miteinander verbundene, becherförmige kupferne Kappen gleichzeitig auf die Fackeln und löschen sie. Giovanni hört die Geräusche, mit denen Mendoza seinen Stock auf den Boden setzt, während er sich entfernt. Als er ein letztes Mal durch das Tuch über den Einband des Satansevangeliums streicht, kommt es ihm vor, als dringe eine sonderbare Wärme in seine Fingerspitzen.
»Kommen Sie?«
Giovanni hebt den Kopf und sieht, dass Mendoza den Ausgang erreicht hat und dort steht wie ein Standbild. Giovanni geht zu ihm, dann schließt sich die schwere Tür hinter ihnen.
43
Es ist dunkel. Mutter Isolde ist schon lange tot. Maria hat das daran gemerkt, dass sich die Finger um ihren Hals gelöst haben. Jetzt liegt die Alte im Staub, eine faltige leere Hülle abgestorbenen Fleisches – mehr ist von der Oberin nicht geblieben, die sich siebenhundert Jahre zuvor selbst erwürgt hatte.
Jetzt ist Maria allein, gefangen in der Trance, die sie in jenem Gelass festhält. Sie blickt ins Leere, sitzt irgendwo auf einer steinernen Bank jenseits der Mauer, ist aber zugleich dort in der Grabeshöhle gefangen. Obwohl es dort schon längst kein einziges Sauerstoffatom mehr gibt, vermag Maria nicht zu sterben.
Jetzt kommt ihr der Gestank in Erinnerung, der dort in der Tiefe geherrscht hatte, als sie die Augen wieder aufschlug. Kaleb hätte sie töten können. Doch stattdessen hat er sie der langen Qual des inneren Eingemauertseins ausgeliefert. Die Vision und die Mauer, ein zweifaches Gefängnis, dem zu entfliehen sie nicht die geringste Aussicht hatte. Allein Carzo besaß die Fähigkeit, sie aus ihrer Trance herauszuholen, indem er ihr die dazu nötigen Wörter ins Ohr flüsterte. Das hatte Kaleb gewusst.
In ihren Gedanken war sie dem Priester auf seinem Weg nach Rom gefolgt. Der Kampf zwischen ihm und Kaleb hatte in einem lauten Zugabteil seinen Fortgang genommen und die ganze Nacht gedauert. Bei Tagesanbruch hatte Kaleb verloren. Davon war Maria
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