Die Normannen
Einleitung
Wer waren «die Normannen»? Im Deutschen versteht man traditionell darunter sowohl die Wikinger, also die Bewohner Skandinaviens vom Ende des 8. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, als auch deren Nachfahren, die sich im 10. Jahrhundert in Nordfrankreich niederließen, das Christentum und die romanische (altfranzösische) Sprache annahmen und dem von ihnen beherrschten Gebiet den Namen Normandie gaben. Der doppeldeutige deutsche Sprachgebrauch hat seine Wurzeln in der Terminologie fränkischer Autoren des Karolingerreichs, denn diese bezeichneten die Wikinger, die im 9. Jahrhundert die Küsten unsicher machten, als «Nordmannen». Im Englischen und Französischen, aber auch in der historischen Forschung unterscheidet man hingegen die skandinavischen Wikinger von den Einwohnern der Normandie, den Normannen. Diesem Sprachgebrauch schließen wir uns im Folgenden an, zumal in der Reihe «Wissen», in der die vorliegende Darstellung erscheint, «Die Wikinger» vor einigen Jahren von Rudolf Simek eigens behandelt wurden.
Viele Bewohner der Normandie zog es im 11. Jahrhundert in die Ferne, mit weitreichenden historischen Folgen: Als der normannische Herzog Wilhelm im Jahre 1066 durch seinen Sieg in der Schlacht von Hastings die englische Königskrone erlangte, löste sich England von seiner politischen und kulturellen Bindung an Skandinavien und rückte näher an Frankreich heran. Um dieselbe Zeit zogen andere normannische Ritter in den Süden und eroberten große Teile Süditaliens. Einer ihrer Nachfahren, Roger II., Sohn Rogers I. von Hauteville, vereinigte 1130 Unteritalien und Sizilien, die lange Zeit unter byzantinischer bzw. arabischer Herrschaft gestanden hatten, in einem neuen Königreich. Dadurch wurde der Süden Italiens zu einem Teil der westlich-lateinischen Christenheit. Bohemund I., ein Vetter Rogers II.,gründete während des 1. Kreuzzugs (1098) im damals syrischen Antiochia (heute Antakya, Türkei) ein normannisches Fürstentum.
Im 12. Jahrhundert gab es also mit den Königreichen England und Sizilien sowie dem Fürstentum Antiochia drei von Normannen begründete Reiche (s. Karte hintere Umschlaginnenseite). Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts sprachen ihnen daher ein besonderes Talent zur Errichtung neuer «Staaten» zu. Aus englischer Sicht nahmen die mittelalterlichen Normannen das neuzeitliche britische
Empire
vorweg: «Um das Jahr 1100 hatten die Normannen eine Art
Commonwealth
gegründet, bei dem sich ihre unmittelbare territoriale Hegemonie in einer losen Kette von Staaten von der walisischen Mark über die Flüsse Severn und Dee, über die Normandie und Süditalien und Sizilien bis nach Antiochia und den Fluss Orontes erstreckte. Hinzu kommen noch die normannische Beteiligung an der Rückeroberung (
Reconquista
) Spaniens von der islamischen Herrschaft (…) und die von Italien aus über die Adria führenden Feldzüge gegen das Byzantinische Reich» (Brown).
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ließ die politische Einigung Europas die mittelalterlichen Normannen in einem anderen Licht erscheinen. Nun wurden sie als «Volk Europas» (
popolo d’Europa
) gefeiert, so der Titel einer Ausstellung, die 1994 im Palazzo Venezia in Rom zu sehen war. Die Normannen – so liest man im Ausstellungskatalog – hätten durch die von ihnen bewirkten Verbindungen zwischen Nord- und Südeuropa einen wichtigen Beitrag zur Bildung des europäischen Bewusstseins geleistet. Ihre Bereitschaft zur Assimilierung und Integration verschiedener Völker und Kulturen sei ein mögliches Modell für die Schaffung einer neuen multikulturellen europäischen Identität ohne ethnische Barrieren.
Auch für die deutsche Geschichte sind die mittelalterlichen Normannen von Bedeutung. Nur mit Hilfe der militärischen Unterstützung durch die in Süditalien ansässig gewordenen Normannen konnten die Päpste im sogenannten Investiturstreit die Unabhängigkeit der römischen Kirche vom römisch-deutschen Kaisertum durchsetzen. Das von Roger II. geschaffeneKönigreich Sizilien wurde zu einer wichtigen Stütze des Papsttums; alle Versuche der Kaiser, es zu unterwerfen, blieben ohne Erfolg. Am Ende entschloss sich Friedrich Barbarossa, mit den Normannen Frieden zu schließen: Er verheiratete seinen Sohn und Nachfolger Heinrich VI. mit Konstanze von Sizilien. Als deren Neffe, König Wilhelm II., 1189 kinderlos starb, erbte Konstanze sein Reich, das so mit dem staufischen Kaiserreich verknüpft wurde. Ihr Sohn,
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