Nicht von schlechten Eltern - Meine Hartz-IV-Familie (German Edition)
KAPITEL EINS
»Trau dich!«
In dem es um eine Studentin mit Abschluss geht, die statt Aufbruchsstimmung eine große Müdigkeit verspürt und sich damit auseinandersetzen muss, dass selbst die Zukunft noch von der Vergangenheit bestimmt wird.
Meine Mutter hat mir beigebracht, dass in diesem Land jeder die gleichen Chancen hat. Sie hat mich dazu ermutigt zu träumen. Obwohl sie sich in den Warteräumen des Jobcenters nicht als vollwertiger Mensch und oft hilflos fühlte, habe ich sie nie auf andere oder auf den Staat schimpfen hören. »Du kannst alles im Leben erreichen, was du willst«, hat sie zu mir immer gesagt – obwohl sie wusste, dass sie mir dann irgendwann bei den Hausaufgaben nicht mehr würde helfen können, obwohl sie nachts von all den Leckereien träumte, die nie in unserem Einkaufswagen lagen.
Hartz-IV-Empfänger gelten in der Öffentlichkeit allzu oft als Jammerlappen, Flaschensammler, gewaltbereite junge Männer, sie werden eher als »Asoziale« wahrgenommen denn als Mitbürger. Oder man führt sie in Talkshows und Reportagen als traurige Helden vor, als tapfere Alleinerziehende, als unfreiwillige Frührentner oder als arme Selbständige, die ohne Schuld in Not geraten sind und um das Recht auf ihr Auto kämpfen.
Meine Eltern gehören weder zur einen noch zur anderen Gruppe: Sie haben ein mittleres Bildungsniveau, sie legen Wert auf gesunde Ernährung und sie hören Kulturradio. Womöglich sind sie nicht die Einzigen.
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Als ich das erste Mal neben meiner Mutter auf der breiten Holzbank eines Wartesaals saß, war ich noch nicht einmal drei Jahre alt und meine Mutter schon arbeitslos. Ich war noch sehr klein, aber ich erinnere mich an die weite Steinhalle, so endlos wie die Wartezeit, an dröhnende Lautsprecher und daran, dass meine Mutter geweint hat. Damals, 1981, war das Sozialamt im Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz in Kreuzberg untergebracht. Es war schmutzig und es wurde viel geraucht. Eine Spielecke für Kinder gab es nicht. Die Lautsprecherdurchsagen waren so unverständlich, dass meine Mutter die ganze Zeit Angst hatte, vor lauter Rauschen ihren Namen zu überhören.
Wir hatten schon lange gewartet, vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei Stunden. Also hat sie zaghaft an eine Tür geklopft, um nachzufragen, ob sie vielleicht doch schon aufgerufen wurde. Hinter der Tür hatte der Sachbearbeiter gerade seine Stullen ausgepackt und die Zeitung aufgeschlagen. Er hat sie gleich angeschnauzt. Da hat sie angefangen zu weinen.
Meine Eltern waren, solange ich denken kann, Langzeitarbeitslose: Eine alleinerziehende Mutter und ein geschiedener Vater und Aufstocker, der als Taxifahrer weniger verdiente als ich mit meinen schlecht bezahlten Studentenjobs. Mittlerweile sind sie beide über sechzig und erhalten eine kleine Rente mit ergänzender Sozialhilfe. Leider ist keinem von beiden die sogenannte »Integration in den Arbeitsmarkt« gelungen. An der Zahl der Bewerbungen, einem mangelnden Wunsch nach Unabhängigkeit und Arbeit lag das nicht.
Für mich gehören meine Eltern zu jenen unsichtbaren Helden, die in unserem Land jeden Tag um ihr soziales Überleben kämpfen. Im Vergleich zur Mehrheit haben sie in diesem Kampf eine schlechte Ausgangsposition. Sie haben sich, obwohl sie sich oft erniedrigt fühlten, ihre Würde bewahrt. Trotzdem beeinflusst die Sozialhilfe bis heute ihr Leben und damit auch meins.
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Als man mich zu Beginn meiner Hospitation beim Zeit-Magazin fragte, was ich denn an Themenvorschlägen parat habe, war der Vorschlag, über meine langzeitarbeitslosen Eltern zu schreiben, eine Verlegenheitslösung. Die spontane begeisterte Reaktion war die erste Überraschung. Beim Schreiben überkamen mich immer wieder Zweifel; ob das Thema jemanden interessieren würde, ob ich genug zu erzählen hätte, ob ich überhaupt die geeignete Person bin, etwas zum Thema Armut zu sagen. Meine Bekannten verstanden auch anfangs nicht, was ich da genau berichten wollte. Was sollte an mir so anders sein? Sie konnten keinen Unterschied sehen. Bis der Text druckfertig war, ging er einige Male zwischen mir und meiner Redakteurin hin und her. Ein paarmal war ich kurz davor, das Projekt zurückzuziehen. Dann dauerte es Monate, und ich dachte schon, die Redaktion hätte es sich anders überlegt. Als ich nachfragte, kam die zweite Überraschung: Der Text sei für den Titel eingeplant. Typisch, dachte ich, entweder verschwinde ich ganz in der Menge oder ich falle richtig aus der Reihe. Einfach
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