Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Vorwort
«D as» Mittelalter gibt es nicht, aber viele Klischees davon. Zuerst wollte man sich mit humanistischem Pathos oder aufgeklärtem Schaudern von der «Barbarei» der Vorfahren abheben. Dann träumten sich die Menschen in eine romantische Welt, wo all das, was sie von ihrer Gegenwart abstieß – vor allem die Folgen des Kapitalismus und der Industrialisierung –, noch nicht entfaltet war. Heute leben Jugendliche und solche, die es bleiben wollen, ihre manchmal gewalterfüllten Phantasien bei Computerspielen oder bei der Lektüre von Geschichten aus, die ihre Requisiten aus einem vermeintlichen Mittelalter entlehnen.
Der Epochenbegriff – von den Humanisten ursprünglich abwertend gemeint – hat sich nun einmal für das Jahrtausend zwischen 500 und 1500 n. Chr. eingebürgert. Der Historiker Jacques le Goff fand in dieser Zeit die Geburt Europas. Die Spuren des Mittelalters sind vielfältig und widersprüchlich, je nach Regionen, sozialen Ebenen und Interessen. In einem schmalen Bändchen eine «Kulturgeschichte des Mittelalters» zu schreiben, anstatt in dicken Bänden eine Vielzahl von Fachleuten zu bemühen, scheint auf den ersten Blick schwer zu bewältigen.
Da ist einmal nach dem Zeitraum zu fragen. Die Transformationen am Ende der Antike auf der einen Seite und zu Beginn der Frühen Neuzeit auf der anderen wären eigene Bücher wert. Die klassische Einteilung in Früh-, Hoch- und Spätmittelalter ist für die Sozial- und Kulturgeschichte wenig brauchbar. Eine westeuropäische Tradition kennt ein Erstes und ein Zweites Mittelalter. In Frankreich dauern aber Haut Moyen Âge und Bas Moyen Âge streng je 500 Jahre, und der Übergang wird meist mit dem Beginnder Dynastie der Kapetinger 987 markiert. Ich setze, mitteleuropäischen Gegebenheiten entsprechend, eine längere Übergangsphase zwischen Erstem und Zweitem Mittelalter im 13. Jahrhundert an. Im Ersten Mittelalter in diesem Sinn geht es vor allem um konkrete Netzwerke von Personen, im Zweiten erneuern sich unter schweren Geburtswehen die politischen Institutionen. Was das für die Kultur der Menschen bedeutete, wird zu zeigen sein.
Die zweite Frage, diejenige nach dem Raum, hat nicht bloß mit geschichtlichen Strukturen zu tun. Die Verlagerung des Schwerpunkts der Macht vom Mittelmeerraum in das Zentrum des europäischen Kontinents gibt den Ton an. Andere Kulturen wie die von Byzanz und den islamischen Ländern würden besondere Kompetenzen verlangen und eigene Bücher füllen. Die Sprachen der Quellen setzen dem Historiker Grenzen, denn nicht alles kann den Texten in der mittelalterlichen Universalsprache Latein entnommen werden.
Die Fachliteratur für alle in Frage kommenden Kulturen ist nahezu unüberschaubar. Die Untersuchung der Kulturgeschichte in den romanischen Ländern trug reiche Früchte; sehr viele dieser Bücher liegen auch in deutscher Übersetzung vor. Gerade für den durch die Erweiterung des gemeinsamen Europa wieder nahe an das Zentrum gerückten slawischen Bereich sind, ebenso wie für Ungarn, solche Übersetzungen unverzichtbar.
Schließlich stellt sich die Frage nach dem Gegenstand – Kultur: Ist das der Teppich, den sich die Menschen über den harten Boden des Alltags legen, um ihren Lebensraum bewohnbar zu machen? Oder ist der Alltag selbst, der von den meisten Menschen die ganze Lebenskraft verlangt, die menschliche Kultur schlechthin? Kultur steht sicherlich in einer konkreten Spannung zwischen diesen beiden Aspekten. Der Mensch gab den Wesen ihre Namen (Gen 2, 20), d.h., er erfüllte die Welt mit Bedeutung. Dann folgen in der Metaphorik der Bibel, die im Mittelalter vorherrscht, die Begründung des Geschlechts, die Erlaubnis, sich die Schöpfung dienstbar zu machen und sie zu hegen – das Wort Kultur kommtvon lat.
colere
(bebauen, pflegen) –, sich zu vermehren, und schließlich der Sündenfall. Damit sind auch die Leitbegriffe der «Cultural Studies» angedeutet: Identität und Differenz, Gender und Sexualität und, wenigstens indirekt, Community.
Was dann von den Kulturen erhalten blieb, ist auch eine Frage der Macht. Mächtige setzen für Handelnde und Betroffene Zeichen der politischen und sozialen Orientierung und sorgen dafür, dass ihre Sichtweise aufgezeichnet wird. Die kulturelle Repräsentation richtet sich bei einer gesellschaftlichen Gruppe zugleich stabilisierend nach innen wie legitimierend nach außen. Kultur als Medium der Herrschaft kann zwar elitär angelegt sein, sie muss aber für viele
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