Das ewige Lied - Fantasy-Roman
sie verzweifelt versucht, sich die Daten des letzten Krieges gegen die Ostreiche zu merken, aber sie war sich nicht sicher, ob ihr das gelungen war. Morgen stand ihre letzte schriftliche Prüfung an, und es war gleichzeitig diejenige, vor der sich Jayel am meisten fürchtete: die Geschichtsprüfung. Alle anderen schriftlichen Prüfungen hatte sie bereits abgelegt und bestanden. Auch die Prüfungen, die Gesang und Tanz betrafen, lagen erfolgreich hinter ihr. Nur diese letzte Prüfung bereitete ihr jetzt noch Sorgen. Jayel hatte den Nachmittag und Abend zur freien Verfügung, wie alle anderen Akolythen auch. Aber während ihre Freundinnen ausnahmslos in die Stadt gegangen waren, um ihre bisherigen Erfolge zu feiern – oder ihre Misserfolge zu vergessen – war Jayel im Garten geblieben, um noch einmal zu lernen. Jetzt betrachtete sie, wie sich die hinter den Dächern der Häuser versinkende Sonne im See spiegelte, und die Akolythin seufzte. Sie hatte überhaupt nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. Zudem saß sie an dieser Stelle so geschützt, dass sie weder gesehen werden, noch etwas von ihrer Umgebung wahrnehmen konnte. Die herabhängenden Zweige der Weide umschlossen sie, so dass sie wie in einer Hütte von der Außenwelt abgeschnitten schien. Im Moment fühlte sie sich frei und glücklich, und die morgige Prüfung schien noch unendlich weit weg. Und so begann sie, ein wenig vor sich hinzusummen. Zunächst nur einige Tonleitern, wie um ihre Stimme zu schulen. Doch dann entwickelte sich daraus eine Melodie, zu der ihr schließlich wieder Worte einfielen. Es war ein altes Kinderlied, das ihr Tilde früher vorgesungen hatte.
„Sei still, mein Kindchen
Schlaf ein Stündchen
Ruhe sanft und ruhe still
Träume von Märchen
Von Prinz und Prinzessin
Von denen ich dir erzählen will.“
„Das ist ein sehr schönes Lied, wenn ich es auch noch nie von der Stimme einer Bardin gehört habe.“
Jayel fuhr erschrocken herum. Hinter ihr stand eine schlanke Frau, gekleidet in sehr kostbare und vornehme Gewänder. Ihre Haare waren schneeweiß, obwohl sie gewiss noch nicht älter als vierzig Sommer war, und sie lächelte Jayel freundlich an. Ihre Augen blickten gutmütig und sanft, doch darunter lagen Schatten, und ihre Stirn war von Sorgen zerfurcht. Voller Schrecken erkannte Jayel schließlich, dass sie Großkaiserin Cwell gegenüberstand, und hastig sprang sie auf, um in einen tiefen Hofknicks zu versinken. „Nicht doch, mein Kind, du musst nicht gleich erschrecken. Woher solltest du wissen, dass ich auf der anderen Seite der Weide sitze, ohne meine schnatternden Hofdamen, ganz still und heimlich“, sagte die Kaiserin lächelnd. Jayel senkte ehrfürchtig den Kopf und flüsterte: „Eure Majestät...“
Kaiserin Cwell kam auf Jayel zu, die sofort erstarrte. Sie hob den Kopf des Mädchens mit dem Finger an und sah ihr ins Gesicht. „Nun verrate mir mal, warum du als einzige eurer Schule den freien Abend mit Lernen verbringst, hm?“
Jayel blickte schuldbewusst zu ihr auf. „Weil ich für meine Geschichtsprüfung morgen nicht richtig vorbereitet bin, eure Majestät...“, sagte sie reuig.
Kaiserin Cwell seufzte: „Ja, Geschichte war auch immer mein Schwachpunkt. Wie liefen denn deine Prüfungen bisher?“
„Oh, sehr gut, eure Majestät...“, rief Jayel und stockte dann. Sie wollte nicht arrogant klingen. „Die bisherigen Prüfungen habe ich bestanden, kaiserliche Hoheit“, verbesserte sich das Mädchen.
Die Kaiserin betrachtete Jayel prüfend und fragte: „Wie ist dein Name, mein Kind?“
„Jayel Ysternas, eure Majestät“, murmelte Jayel und wünschte sich, im Boden zu versinken.
Die Kaiserin gab einen erstaunten Laut von sich: „Oh. Dann bist du ja die Akolythin, die in drei Fächern als Beste abgeschnitten hat. Na, nun sieh mich nicht so verwundert an. Ich lasse mich im Vorfeld immer über die Ergebnisse informieren, damit ich weiß, wem ich welche Aufgabe zuteilen kann. Na, so schlimm kann dann ja die Geschichtsprüfung gar nicht werden. Mach dein Buch zu und geh zu den anderen Akolythen in die Stadt!“
Das klang wie ein kaiserlicher Befehl, und Jayel nickte gehorsam. „Jawohl, eure Majestät. Aber wenn ich etwas fragen darf: Woher wisst Ihr, dass alle in der Stadt sind?“
Cwell lachte, und das machte ihr Gesicht gleich ein paar Jahre jünger. „Ich würde ja jetzt gerne behaupten, dass ich immer genau Bescheid weiß, was in meiner Bardenschule vor sich geht, aber um die Wahrheit zu sagen: Ich
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