Das ewige Lied - Fantasy-Roman
wollte eigentlich eine Botschaft in die Stadt senden und habe vor einiger Zeit durch eine Dienerin um einen Boten bitten lassen. Und das Mädchen teilte mir mit, dass alle Akolythen in die Stadt gegangen sind.“
„Oh, aber Majestät“, rief Jayel und vergaß für einige Augenblicke, im Hofknicks zu versinken, „wenn es eine wichtige Botschaft ist, kann ich sie gerne überbringen. Mir macht es nichts aus, und ich bin schließlich sowieso noch da.“
Großkaiserin Cwell zögerte für einige Sekunden, nickte dann jedoch: „In Ordnung, das wäre mir sehr recht. Im Zweifelsfall hätte ich eine Dienerin losgeschickt, aber mir liegt doch sehr daran, dass der Brief standesgemäß überbracht wird.“ Die Kaiserin trat durch die Zweige der Weide hindurch und Jayel wagte, ihr zu folgen. Sie sah auf der anderen Seite der Zweige einige Papiere auf der Wiese ausgebreitet liegen. Die Kaiserin bemerkte Jayels Blick. „In letzter Zeit komme ich öfters in den Garten, um mir Gedanken zu machen wegen unserer politischen Lage“, erklärte sie. „Hier erscheint mir das Denken irgendwie einfacher, als in den stickigen Räumen im Palast.“ Jayel nickte, obwohl sie sich dachte, dass ihr das Denken in solch einer Lage wohl überall schwer gefallen wäre.
Cwell hob einen versiegelten Bogen Pergament auf und überreichte ihn Jayel. „Hier ist der Brief. Bringe ihn bitte so schnell wie möglich zur Botschaft des Ostreiches. Sag dem Diener an der Tür, dass du ihn nur dem Gesandten des Weisen Lei selbst übergeben darfst. Sein Name ist Han.“
Jayel nahm den Brief und versank wieder in einen tiefen Hofknicks. Cwell sah sie eine Weile fragend an, erinnerte sich dann des strengen Hofzeremoniells, das an der Bardenschule gelehrt wurde und sagte: „Du darfst dich jetzt entfernen!“ Schmunzelnd beobachtete sie, wie das junge Mädchen eilig auf das Gebäude der Bardenschule zulief. Dann drehte sie sich seufzend um. Auch für sie wurde es Zeit, ins Haus zu gehen; sie wurde heute Abend auf einer Stadtversammlung erwartet, und das Volk wollte hören, wie sie im weiteren Konflikt mit Ilbatan und Balenndi vorzugehen gedachte.
Jayel war so stolz und aufgeregt wie nie zuvor. Sie hatte die Kaiserin getroffen, und Cwell hatte nicht nur schon von ihr gehört, sondern sie mit einer Botschaft an den Gesandten der Ostreiche geschickt. Das war beinahe wie in einem Märchen.
Eilig rannte das junge Mädchen die Treppen hinauf. Ihr Zimmer lag im dritten Stockwerk des Gebäudes. Es war ein kleiner, einfach eingerichteter Raum, den sie sich mit zwei anderen Akolythinnen teilte. Jayel sprang rasch zu ihrem Schrank und warf sich ihr besticktes Umhängetuch über die Schultern, das sie als offizielle Botin auswies. Dann ergriff sie die Botschaft fester und machte sich auf den Weg.
Farseth war die größte Stadt des Reiches Celane, und sie bot Besuchern einen atemberaubenden Anblick. Alle Häuser waren aus weißem Kalkstein erbaut, und die Stadt war von einer Mauer aus dem gleichen Gestein umgeben. Diese Mauer hatte die Form eines Achtecks, und an den acht Ecken erhoben sich weiße Wachtürme. In vier von ihnen waren Tore eingelassen, die genau in die vier Himmelsrichtungen wiesen und Besucher aus dem Norden, Osten, Süden und Westen einluden. Die vier anderen Türme boten einen Durchgang für die Flüsse Duni und Azon, welche die Stadt durchflossen. Im Zentrum der Stadt gelangten sie in einen See und flossen im rechten Winkel wieder heraus. Inmitten des Sees hatte sich eine Insel gebildet, und auf dieser Insel befanden sich der kaiserliche Park, die Bardenschule und der Palast der Großkaiserin, dessen zwei weiße Türme sich noch hoch über die Türme der Stadtmauer erhoben. Farseth war also durch die Flüsse Duni und Azon in vier Gebiete aufgeteilt. Im Westen der Stadt lebten die Reichen in ihren Villen und Herrschaftshäusern. Nicht nur der Adel, sondern auch reiche Bürger hatten sich hier angesiedelt. Im Norden hatten die Gilden ihre Häuser errichtet. Hier war das Handelszentrum von Farseth, in dem sich auch der Marktplatz befand. Im Osten der Stadt fand man Gasthöfe, das Opernhaus und Theater, die Tempel der verschiedenen Götter, die Magische Akademie und die große Bibliothek.
Für einen Besucher musste es so erscheinen, als ob Farseth eine makellose Stadt war – doch selbstverständlich gab es auch hier einen dunklen Fleck. Und dieser lag im südlichen Teil. Obgleich es nicht unbedingt ein Elendsviertel zu nennen war, so lebte hier doch die
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