Das ewige Lied - Fantasy-Roman
Auch sie schien eine andere Qualität zu besitzen als die gewöhnliche, Jayel bekannte Dunkelheit. Sie ballte sich in den Ecken und Winkeln der Straßen zusammen und schien Jayel mit schwarzen Augen zu beobachten. Jayel zögerte kurz, ihren Weg in dieses Dickicht aus Präsenz fortzusetzen. Doch dann ging sie los. Rein optisch boten die Straßen kein ungewöhnliches Bild. Es gab zwar keine Beleuchtung, doch der weiße Stein der Häuser reflektierte das Licht der zwei Monde, so dass keine wirkliche Dunkelheit vorherrschte, sondern ein bleiches, fast gespenstisches Zwielicht. Jayels Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hallten in den Straßen wider, und die junge Bardin fühlte sich, als sei sie das einzige lebendige Wesen in diesem Teil der Stadt. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – fühlte sie sich beobachtet. „Ihr Götter!“, betete sie im Stillen vor sich hin, „lasst mir den Weg durch diese Straßen nicht zu lang werden.“
Trotzdem kamen ihr die Minuten, die verstrichen, unendlich lang vor. Plötzlich blieb sie irritiert stehen und sah sich um. Sie befand sich inmitten hoch aufragender weißer Häuser, so dass sie vom Rest der Stadt nichts wahrnehmen konnte. So konnte sie weder die Türme der Stadtmauer sehen, noch den kaiserlichen Palast. Jayel wusste in diesem Moment nicht, wo sie sich genau befand. Panik stieg in ihr auf, aber sofort beruhigte sie sich selbst: „Geh einfach immer geradeaus weiter, dann stößt du entweder auf die Stadtmauer, der du folgen kannst, oder du gelangst an die andere Seite des Stadtteils und kannst in den Osten hinüber.“ Also atmete das Mädchen tief durch und ging weiter.
Plötzlich lauschte sie. Hinter ihr erklangen Schritte. Jayel blieb stehen und betrachtete einen Blumenkübel vor einem Hauseingang. Das Geräusch der Schritte verstummte. Jayel ging langsam weiter. Hinter ihr wurden die Schritte ebenfalls wieder laut. Jayel ging schneller. Ebenso ihr Verfolger. Erneut wollte die Panik von ihr Besitz ergreifen, doch Jayel zwang sich, ruhig zu bleiben. Panik, so hatte sie gelernt, nutzte in den seltensten Fällen etwas. Sinnvoller erschien es, sich zu überlegen, wie sie weiter vorgehen sollte. Sie ging also ruhig, aber eilig weiter und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Währenddessen ging sie in Gedanken durch, was sie alles in ihrem Beutel bei sich trug. Etwas Geld – nicht viel allerdings – einen Brief ihres Bruders, den sie noch nicht gelesen hatte, etwas Wundsalbe, die sie in den vergangenen Tagen gekauft hatte. Nicht viel, um sich eines nächtlichen Angreifers zu erwehren. Plötzlich fiel ihr das Nieswurzpulver von Grinabald ein. Erleichtert tastete sie in ihrem Beutel nach dem kleinen Päckchen. Nun fühlte sie sich um einiges sicherer.
Nur kurze Zeit später konnte Jayel in der Ferne etwas schimmern sehen: die Stadtmauer. Sie musste sich beherrschen, um nicht erleichtert aufzuschreien. Endlich ein Hinweis, der sie aus diesem verrufenen Stadtteil hinausbringen würde. Doch da bemerkte sie mit Entsetzen, dass die Schritte hinter ihr sich beschleunigten. Jayel begann, ebenfalls schneller zu gehen, bis sie fast rannte. Das Geräusch ihrer eigenen Schritte verschluckte die Geräusche ihres Verfolgers, so dass Jayel unmöglich ausmachen konnte, ob sie weiterhin verfolgt wurde. Doch sie wagte nicht, anzuhalten und zu lauschen, auch nicht, sich umzusehen, als sie jemand plötzlich am Arm packte. Jayel schrie auf. Das Blut rauschte in ihren Ohren, und in panischer Angst holte sie das Beutelchen mit dem Nieswurzpulver heraus, drehte sich herum und schüttete den ganzen Inhalt mit aller Wucht ihrem Angreifer ins Gesicht. Dieser schrie gepeinigt auf, und Jayel warf sich herum, um zu flüchten, konnte sich eines gewissen Triumphgefühls jedoch nicht erwehren. Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen und drehte sich noch einmal um, um ihr Werk in Augenschein zu nehmen. Sie erblickte eine in schwarz gekleidete Gestalt, die sich auf dem Boden wälzte und das Gesicht mit beiden Händen bedeckt hielt. Dabei stieß sie schmerzerfüllte Laute aus. Jayel beschlich ein ungutes Gefühl. Irgendwie kam ihr die Stimme ihres Angreifers bekannt vor.
„Daphnus...?“, fragte sie vorsichtig und trat einen Schritt auf den Mann zu, der sich, immer noch vor Schmerz keuchend, aufgesetzt hatte. Als Antwort erhielt sie einen Schwall Flüche und das Versprechen, schon bald ihr Dasein als Kröte fristen zu müssen, was ihre Vermutungen bestätigte. Hilflos ließ sie sich in
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