Das ewige Lied - Fantasy-Roman
brannte und somit auch die Bardenschule, hatte Jayel die Nacht bei Daphnus verbracht. Sie hatte am Fenster gestanden und Daphnus den schrecklichen Anblick beschrieben. Die elegant aufragenden Türme waren in glutroten Schein getaucht und von dichten Rauchschwaden umhüllt gewesen. Jayel glaubte noch am Morgen, das Prasseln der Flammen in ihren Ohren zu hören. Der Anblick erschütterte sie bis in die tiefsten Winkel ihrer Seele. Wahrscheinlich war es vor allem die Lautlosigkeit, mit der sich die Flammen ihren Weg fraßen und verkohlte Reste zurückließen, die sie so sehr entsetzte.
Der Magier war irgendwann erschöpft eingeschlafen, doch Jayel hatte die ganze Nacht am Fenster gestanden, wo sie aufmerksam den Rufen und Schreien in den Straßen lauschte. Auf diese Weise gelangte sie an verschiedene Informationen, und dank ihrer Ausbildung gelang es ihr bald, den frei erfundenen Klatsch von den glaubhafteren Gerüchten zu trennen. Es hieß, jemand habe das Feuer gelegt, und dass die Kaiserin zum Glück nicht im Palast gewesen sei, sondern bei der Stadtversammlung, die sich lange hingezogen hatte. In den frühen Morgenstunden kam es schließlich zum traurigen Höhepunkt des Spektakels, als der höchste Turm des weißen Palastes wie ein Grashalm umknickte und verkohlte Kalksteinbrocken auf die schon völlig ausgebrannte Bardenschule herabstürzten. Kurz darauf brach auch der andere Turm zusammen.
Jayel war wie gelähmt. In den Straßen unter ihr hörte sie Frauen weinen, Männer klagen. Dumpf keimte in ihrem Kopf der Gedanke auf, dass die Geschichtsprüfung am heutigen Tage wohl nicht stattfinden würde, und voller Entsetzen musste sie feststellen, dass es ihre Welt, wie sie bis einen Tag zuvor existiert hatte, nicht mehr gab. Sie fühlte sich unglücklich und verloren, hatte keine Ahnung, wo sie sich hinwenden sollte – bis Daphnus erwachte und wissen wollte, was in der Zwischenzeit geschehen war. Jayel fand Erleichterung darin, das zu tun, was sie konnte und gelernt hatte: zu erzählen. Kurz nach Sonnenaufgang machte die Botschaft in der Stadt die Runde, die Großkaiserin sei wohlauf und würde in der großen Stadthalle zur Bevölkerung sprechen. Jayel und Daphnus hatten sich sofort auf den Weg gemacht. Leider hatte der Großteil der Bevölkerung die selbe Idee gehabt.
„Manche Leute sagen, es seien kontrakaiserliche Separatisten gewesen, die den Palast angezündet haben“, berichtete Jayel Daphnus, während sie sich durch die Menge kämpften.
„Das kann ich mir allerdings vorstellen“, entgegnete Daphnus. „Kaiserin Cwell hat nicht nur Freunde, besonders seitdem der Konflikt mit dem Süden sich verschärft hat.“
„Aber ich glaube nicht, dass sie so weit gehen würden!“, widersprach Jayel. „Immerhin war der Palast das Wahrzeichen des Landes! Ich kann immer noch nicht glauben, dass er zerstört ist...“
„Vergänglich ist, ach, alles auf der Welt...“
, zitierte Daphnus düster.
„Ich bin hier für die alten Lieder zuständig, nicht ihr!“, sagte Jayel ärgerlich. „Und darf ich darauf hinweisen, dass der Palast, genau wie ganz Farseth, bereits seit 500 Jahren existiert? Er ist als das Zeichen des Friedens nach dem großen Krieg der Völker errichtet worden. Wenn dieser Pyromane nicht gekommen wäre, stünde er wahrscheinlich noch weitere 500 Jahre!“
„Ach, jetzt ist es ein Pyromane?“, fragte Daphnus ironisch.
„Auch eines von den aktuellen Gerüchten“, entgegnete Jayel.
„Dann“, meinte Daphnus, „halte ich dieses Gerücht für das wahrscheinlichste. Bestimmt war es ein Irrer, dessen wahnsinniger Plan leider funktioniert hat.“
Mittlerweile waren die beiden an der Stadthalle angekommen. Mit ein wenig Glück gelang es ihnen, sich bis ins Innere der Stadthalle vorzukämpfen, und zwei Stehplätze im hinteren Teil der Halle zu ergattern. Im vorderen Teil befand sich ein Podium, das vom Zuschauerraum nicht erreicht werden konnte, sondern nur über eine seitliche Tür, die von draußen hereinführte. Die Halle war bereits dicht gefüllt. Während der nächsten Minuten wurde es immer voller, bis schließlich die großen Flügeltüren zu beiden Seiten der großen Halle geöffnet wurden, damit die Menschen vor dem Gebäude ebenfalls der Rede der Königin lauschen oder sie zumindest von weitem sehen konnten. Jayel blickte durch die Türen und sah mit Erstaunen, dass die beiden offenen Plätze zu beiden Seiten der Stadthalle, die sonst für Theateraufführungen oder Ausstellungen genutzt
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