Das ewige Lied - Fantasy-Roman
die Hocke neben ihr Opfer sinken. „Seid ihr jetzt unter die Diebe gegangen?“, fragte sie anklagend und versuchte, so viel Verachtung wie möglich in ihre Stimme zu legen.
Daphnus, immer noch damit beschäftigt, sich hektisch Gesicht und Augen zu reiben und dazwischen schmerzerfüllt zu stöhnen, entgegnete zähneknirschend: „Eigentlich habe ich euch nur mitten in der Nacht mutterseelenallein durch den verrufensten Teil der Stadt laufen sehen und wollte euch anbieten, euch zu begleiten...“
„Oh!“ Jayel fühlte sich immer hilfloser. „Aber ... warum habt Ihr mich nicht angesprochen?“
„Weil Ihr zu weit weg wart. Und deswegen begann ich auch schließlich, schneller zu laufen“, knurrte Daphnus und stöhnte.
„Natürlich“, sagte Jayel kleinlaut und bat dann schuldbewusst: „Lasst mich eure Augen sehen!“
„Warum? Wollt Ihr sie mir auch noch ausstechen?“, fragte Daphnus, nahm aber gehorsam die Hände vom Gesicht. Jayel erschrak. Grinabald hatte sie zwar gewarnt, nicht zuviel von dem Pulver zu verwenden, aber diesen Anblick hätte sie nicht erwartet. Daphnus‘ Augen tränten und waren dick zugeschwollen. Seine gesamte Gesichtshaut war gerötet und mit kleinen, hellroten Pusteln übersät. Als Jayel seine Haut berührte, zuckte er zusammen und jammerte: „Ich bin erblindet!“
Tatsächlich hatte sich ein heller Schleier über seine Augen gelegt, doch Jayel hoffte, dass dieser Effekt nicht von Dauer sein würde. „Die Wirkung des Nieswurzpulvers hält nur wenige Tage an“, sagte sie, „doch ich denke, Ihr solltet vielleicht einen Medicus aufsuchen...“
„Jetzt? Mitten in der Nacht? Nein, ich glaube, das beste ist, wenn ich mich hinlege und abwarte, wie es morgen aussieht.“
„Habt Ihr denn keinen Zauber, der euch helfen könnte?“, fragte Jayel hoffnungsvoll.
Daphnus brummte etwas Unziemliches und sagte dann: „Diesen Zauber müsste ich nachlesen.“
Jayel schluckte. „Kann ich denn irgend etwas für euch tun?“, fragte sie zerknirscht.
„Nun“, sagte Daphnus sarkastisch und ließ sich von Jayel beim Aufstehen helfen, „es wäre zumindest sehr freundlich, wenn Ihr mir den Weg zu meiner Unterkunft weisen könntet.“
Daphnus Zimmer lag im Ostteil der Stadt, nicht weit von der magischen Akademie entfernt. Es befand sich über einem Schreibwarenladen in einer ruhigen Straße, die nicht viel mit dem Nachtleben Farseths zu tun hatte. Daphnus stützte sich auf dem Weg dorthin schwer auf Jayel, die alle Mühe hatte, unter seinem Gewicht nicht in die Knie zu gehen. Er war zwar kein kräftiger Mann, sondern eher sehnig und geschmeidig, doch er war sehr groß und Jayel reichte ihm, wenn er aufrecht stand, gerade mal bis zur Brust. Ihre Schuldgefühle wurden auf dem Weg immer größer, denn der junge Magier jammerte und stöhnte fast ununterbrochen. Jayel führte ihn schließlich die Treppen zu seinem Zimmer hinauf, ließ sich von ihm den Schlüssel geben und brachte ihn hinein. In diesem Moment dachte sie wenig an die Anstandsregeln, die für Uhlenburg gelten mochten.
Daphnus ließ sich mit einem erleichterten Seufzer auf seine Bettstatt sinken und legte sich auf den Rücken. „Habt Dank, dass Ihr mir hierher geholfen habt,“ murmelte er, „ich hoffe, Ihr findet den Rückweg allein.“
Jayel schloss die Tür und sah sich in dem kleinen Zimmer um. Es hatte nur ein Fenster, das allerdings eine sehr gute Aussicht bot, nämlich den Blick über den Fluss auf die Kaiserinsel. Damit konnte Daphnus zurzeit allerdings wenig anfangen, dachte Jayel beschämt und ließ ihren Blick weiter wandern. Der Raum war karg eingerichtet. Es befanden sich nur ein Bett, ein Schreibtisch, ein Bücherschrank und eine Kommode darin. Der Bücherschrank war vollgestopft, und soweit Jayel erkennen konnte, standen darin ausnahmslos Bücher über Magie. . Doch nicht nur dort, auch auf dem Schreibtisch stapelten sich Bücher und Pergamentrollen, so dass er fast zusammenzubrechen drohte. Die Kommode schien hingegen nur wenige Kleidungsstücke zu enthalten; eine Schublade war halb geöffnet und Jayel konnte sehen, dass sie bis auf ein paar Fetzen Stoff leer war. Auf der Kommode standen eine Schüssel und eine Kanne mit Wasser für die morgendliche Wäsche. Jayel blickte zum Bett. Daphnus schien eingeschlafen zu sein. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig, und er stöhnte nicht mehr so laut. Falls möglich, schienen sich die Pusteln auf seinem Gesicht noch schlimmer entzündet zu haben. Jayel seufzte unhörbar
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