Das ewige Lied - Fantasy-Roman
Prophezeiung mit keinem Wort davon“, ergänzte Tiark.
Sie schlenderten zum Eingang des Tempels hinüber, fanden das Tor jedoch verschlossen vor. Vor der Tür stand einer der Palastwächter. „Der Tempel ist heute geschlossen“, sagte er steif, ohne sich zu bewegen. Jayel fand, dass seine Stimme irgendwie dumpf und hohl klang, als käme sie aus einem tiefen Brunnen.
„Wann wird er wieder geöffnet?“, fragte Tiark freundlich.
Der Wächter wandte nicht einmal den Kopf, als er antwortete: „Morgen zur Mittagsstunde, wenn der Herrscher im Tempel zum Volk spricht. Der Tempelraum wird gerade für dieses Ereignis vorbereitet.“ Mit einem Nicken dankte Tiark dem Wächter, und die Gruppe zog weiter.
„Morgen mittag also“, murmelte der Erdmensch, „eher kommen wir ohnehin nicht hinein. Ich finde, wir sollten uns anhören, was der Herrscher zu sagen hat.“
Sie kehrten in ihre Herberge zurück und nahmen ein kurzes, angesichts der Belagerung karg ausfallendes Abendbrot ein. Dann verschwanden sie so rasch wie möglich auf ihre Zimmer, denn sie wollten am Abend im Wirtsraum keine Aufmerksamkeit erregen. Doch auf dem Zimmer von Gemma und Jayel diskutierten sie noch lange über die Situation in der Stadt und die plötzliche Feindseligkeit der Karawanenmitglieder.
Am nächsten Morgen machten sie sich zeitig auf den Weg, denn Jayel erinnerte sich noch gut an den starken Zulauf, den Cwells Rede vor dem Volk gehabt hatte. Sie befürchteten, dass auch zur Rede des dunklen Herrschers die gesamte Stadtbevölkerung erscheinen würde, und sie mussten schließlich unbedingt in den Tempel gelangen.
Jayel sollte recht behalten: Unzählige Menschen drängten sich zum Tempelbereich hin. Jayel bemerkte allerdings, dass ausschließlich Männer erschienen waren, um der Rede zu lauschen. Leise machte sie Tiark darauf aufmerksam, der einen der Männer, die sich neben ihnen zum Eingang drängten, drauf ansprach. „Der Herrscher hat uns zu verstehen gegeben, dass Frauen sich nicht um solche Dinge kümmern sollten“, erklärte der Mann eifrig. „Er hat in der Wüste eine Erleuchtung gehabt und erkannt, dass Frauen durch den Willen der großen Göttin nur an zweiter Stelle stehen. Immerhin sind sie nur der Göttin nachempfunden und wir, die Männer, stellen die Ergänzung der großen Göttin dar und machen die Schöpfung erst perfekt...“
„Was?“, entfuhr es Jayel hinter ihrem Schleier entsetzt. Der Fremde unterbrach sich und blickte sie mißtrauisch an. Jayel begann zu schwitzen und sagte hastig, mit verstellter, tiefer Stimme: „Ich meine: Was für eine glänzende Idee! Der Herrscher muss wahrhaft erleuchtet sein, um auf so etwas zu kommen...“
Der Mann nickte zustimmend und sagte: „Ja, und damit die Vormachtstellung der Männer deutlich wird, hat er empfohlen, dass Frauen nicht mehr an solchen Veranstaltungen teilnehmen sollen und auch keinen Beruf mehr ausüben dürfen. Sie sollen sich vor allem um die Gabe kümmern, die ihnen die große Mutter geschenkt hat: Gebären und Pflegen. Wir wollen, dass die Frauen unsere Häuser als Tempel ansehen, in denen sie wie eine Göttin verehrt werden, sagt der Herrscher. Aber wie eine Göttin sollen sie auch den Tempel nicht verlassen, zu ihrem Schutz...“ Jayel schluckte und war froh, als die drängende Menge sie von dem Mann wieder trennte.
Als sie den Tempel erreichten, konnten sie gerade noch in den Innenbereich hineinschlüpfen, ehe sich einige der Wächter vor dem Eingang postierten. Wer zu spät kam, musste die Rede des Herrschers von der Straße aus verfolgen.
Jayel und die anderen gelangten durch das Eingangstor direkt in den großen Tempelraum. Der rechteckige Raum war von einer Säulengalerie umkränzt und zur Stirnseite hin ausgerichtet. Er war vollgestopft mit Menschen, so dass man die eigentliche Einrichtung des Raumes nicht erkennen konnte. Die Wände waren mit kostbaren Mosaiken geschmückt, die Decke mit farbigen Malereien verziert. Am Kopfende des Raumes erhob sich ein Podest, auf dem sich ein goldener Altar befand. Inmitten des Altares ruhte auf einem weißen Samtkissen ein dunkelroter, länglicher Kristall.
Jayel stieß Daphnus an. „Dort! Das muss er sein!“, wisperte sie.
„Wir müssen irgendwie in seine Nähe gelangen“, stellte Tiark fest und begann, sich vorsichtig zur Wand durchzudrängeln. Unschöne Worte und wüste Beschimpfungen verfolgten die Gruppe, als sie es Tiark nachtaten. Doch schließlich erreichten sie die Galerie an der Seite. Hier
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