Das ewige Lied - Fantasy-Roman
standen fast keine Menschen, da das Podest von hier aus nicht zu sehen war, und so gelangten die Fünf recht schnell nach vorne. Dort stand bereits ein Priester in langer, weißer Robe mit einem buschigen, dunklen Bart, der ihm fast bis zum Knie reichte. Er nickte ihnen grüßend, wenn auch etwas missbilligend zu und wandte sich dann zum Altar hin. Das Volk im Tempel begann plötzlich zu jubeln und zu applaudieren, und Jayel schob sich vorsichtig an den Rand der Galerie, um sehen zu können, was los war.
Ein Mann war vor den Altar auf die Empore getreten. Er trug einen dunkelblauen Umhang mit weiten Ärmeln und einer riesigen Kapuze, die sein Gesicht vollkommen verbarg. Er hob die Arme, um das Volk zu beruhigen, und als die Ärmel des Mantels zurückglitten, sah Jayel, dass er schwarze Samthandschuhe trug, an den Fingern glitzerten viele goldene Ringe.
„Volk des Südreiches, hör mir zu!“, verlangte der Mann mit einer volltönenden Baritonstimme. Sofort verstummten die Menschen und Jayel wusste nun, dass dies der dunkle Herrscher sein musste. Er fuhr mit seiner Rede fort: „Hört mich an. Ich versprach, euch zu einen – ich habe es getan. Ich versprach, euch zu rächen – ich habe es getan. Ich versprach, euch den Reichtum des Nordens zu bringen – ich werde es tun!“ Das Volk begann, begeistert zu johlen. Jayel bekam eine Gänsehaut. Die Baritonstimme des Herrschers klang angenehm und einschmeichelnd – kein Wunder, dass ihm das Volk vertraute, wenn er so charismatisch zu sprechen vermochte. „Ich weiß“, fuhr der dunkle Herrscher fort, „dass ihr alle unter der Belagerung leidet. Aber sie wird nicht mehr lange andauern! Heute Nacht kommt meine Armee aus der Wüste. Meine Männer haben eure Brüder und Schwestern aus allen Teilen des Südreiches zusammengeholt, um gemeinsam gegen den Feind zu Kämpfen. Macht auch ihr euch zum Kampf bereit! Schließt euch unserer glorreichen Armee an, und wir werden den Feind zwischen den Fronten zerquetschen und dahin zurück jagen, woher sie gekommen sind. Und nicht nur das: Wir werden ihr Land überfallen, wie sie uns überfallen haben und uns wird gehören, was uns eigentlich schon längst gehören sollte!”
Wieder brach das Volk in frenetischen Jubel aus, der Minuten andauerte. Jayel blickte entsetzt zu ihren Freunden, die ebenso erschrocken waren wie sie. Das celansche Heer dort draußen saß in der Falle und würde noch diese Nacht aufgerieben werden.
„Die Menschen aus Celane haben uns erzählt, wir seien ein Volk, wir seien Brüder“, fuhr der Herrscher derweil fort, „aber wenn sie unsere Brüder sind, warum leben sie im Reichtum und wir in Armut? Warum leben wir in der unfruchtbaren Wüste und sie im fruchtbaren Norden? Warum haben sie jahrelang zugesehen, wie wir uns bekämpft haben, und nichts unternommen? Ich sage euch warum: weil sie uns fürchten! Sie wissen, dass wir das wahre Volk des Feuers sind, wie uns die Göttin einst erwählt hat, denn hier, in unserer Hauptstadt, liegt ihr Kristall, das Zeichen, dass sie uns gesandt hat.“ Damit wies der Herrscher auf den Kristall auf dem Altar hinter sich, und wieder jubelte das Volk.
Jayel blickte den Kristall an. Konnte es wahr sein? Der Herrscher hatte ja recht: Warum hatte Celane nie ernsthaft eingegriffen? Und warum hatte man dem ärmeren Teil des Volkes nie beigestanden? War es wirklich ein Zeichen, dass der Kristall hier war? Verwirrt schüttelte die Bardin den Kopf. Offenbar begann die demagogische Stimme des Herrschers auch schon bei ihr Wirkung zu zeigen.
„Sie haben Angst vor uns!“, schrie der Herrscher. „Und das sollten sie auch, denn nun endlich werden wir uns holen, was uns zusteht! Der Feind ist bereits mitten unter uns.“ Bei diesen Worten hatte Jayel das ungute Gefühl, unter der Kapuze hinweg angestarrt zu werden. „Vertreiben wir ihr Heer endlich von unserem Land!“ Die Menge tobte und begann, aus der Kirche hinauszuströmen.
„Wahrscheinlich bewaffnen sie sich jetzt mit Dreschflegeln und Heugabeln“, dachte Jayel, die den davoneilenden Menschen wie betäubt nachstarrte.
Plötzlich ragte ein Schatten vor ihr auf. Sie wandte sich um und erbebte vor Angst: Vor ihr stand der dunkle Herrscher. „Was ist mit dir, mein Sohn?“, fragte er lauernd. „Willst nicht auch du dich unserer glorreichen Armee anschließen?“
Jayel schluckte und versuchte, ihrer Stimme den schweren, südländischen Akzent zu geben, den sie in den letzten Tagen so häufig gehört hatte: „Gewiss,
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