Das Falsche in mir
weit herunter, dass nur noch ein Murmeln zu hören ist.
Grit bringt mir Kaffee, schwarz mit zwei Stück Zucker, ich rühre um, obwohl sie das bestimmt schon getan hat, und nehme einen Schluck. Der Kaffee brennt auf der Zunge, hinterlässt den üblichen Koffein-Nachgeschmack. Es ist alles wie an jedem Arbeitsmorgen. Ich breite die Zeitung über dem Schreibtisch aus, arbeite mich durch das Titelthema – die neuen Arbeitslosenstatistiken, wie üblich eine Mogelpackung der Regierung –, lese schließlich noch die Kommentarspalte neben dem Aufmacher, blättere um und vertiefe mich in eine Reportageüber einen neu entdeckten Indianerstamm in Papua-Neuguinea, der noch nie mit der Zivilisation in Berührung gekommen ist, und über die Maßnahmen, die nun ergriffen werden sollen, damit das so bleibt.
Ich überlege, wie das funktionieren kann. Wenn man diese Menschen schützen will, warum berichtet man dann über sie? Damit sich sämtliche Abenteurer der westlichen Welt auf die Suche nach dem letzten Paradies machen? Bevor ich diesen Gedanken zu Ende führen kann, legt mir Grit den Autoschlüssel des Dienstwagens auf den Tisch. »Der Blaue im zweiten UG , Nummer 143«, sagt sie.
»Danke, Grit«, sage ich, und sie lächelt und stöckelt nach draußen. Mein Blick fällt auf ihre Beine unter der engen Stoffhose, etwas, das sie zweifellos beabsichtigt hat. Ich werfe einen Blick auf die Uhr, es ist Viertel vor zehn. Um elf ist mein erster Termin, eine Grafikdesign-Agentur mit zehn Angestellten und zehn Computern, die nur dann gegen Diebstahl versichert werden, wenn entsprechende Vorkehrungen getroffen werden.
Obwohl ich weiß, dass es in diesem Viertel kaum Parkplätze gibt, beschließe ich, mit dem Auto zu fahren, weil ich ja anschließend noch aus der Stadt herausmuss und die beiden Termine eng beieinanderliegen. Rückblickend wird es mir so vorkommen, als hätten diese Stunden nicht sechzig, sondern mindestens hundertzwanzig Minuten gehabt.
Alles scheint so langsam wie unter Wasser zu gehen: Ich stehe irgendwann in Zeitlupengeschwindigkeit auf, packe meinen Laptop und meine Unterlagen ein, schlüpfe in den Mantel, nehme den Autoschlüssel an mich, verabschiede mich von Grit, die mich unbefangen anlacht, und spüre ihren Blick in meinem Rücken, als ich durch die Glastür in den Flur trete und mich dann zum Lift begebe.
Es kommt mir ewig vor, bis ich die blaue Limousine auf dem Tiefgaragenplatz Nummer 143 gefunden habe, eingestiegen bin, das weiche, satte »Plopp« der zufallenden Autotür vernehme,ein paar Probleme damit habe, das Lenkradschloss zu überwinden, dann aber starte und losfahre, durch das neonbeleuchtete Betonlabyrinth auf die sonnige, windige Straße, in der das Herbstlaub wirbelt, als sei es lebendig.
Dann schalte ich das Autoradio ein, um jetzt endlich die Nachrichten zu hören, die ich vorhin wieder verpasst habe. Mittlerweile ist es halb elf, ich bin also noch gut in der Zeit. Es wird über die üblichen nationalen wie internationalen Verwicklungen berichtet, unter anderem über die x-te Konferenz zum Klimaschutz, obwohl man sich doch nicht einmal sicher ist, ob wir nun auf eine Hitzewelle oder eine neue Eiszeit zusteuern. Es folgen das Auf und Ab an den Börsen mit anschließenden Wirtschaftsnachrichten und der Bericht über einen neuen Expertenstreit über die Beurteilung der neuen Konjunkturdaten. Nach dem Wetterbericht bittet die Polizei um Aufmerksamkeit. Diese fünfminütige Sendung kommt zweimal wöchentlich immer um diese Zeit, und wenn ich dazu Gelegenheit habe, höre ich sie mir wie viele andere in Leyden gerne an. Sie wird von einer Frau namens Meret Giordano moderiert, die seitdem eine lokale Berühmtheit ist, nicht nur weil man mittlerweile weiß, dass sie sehr hübsch ist, sondern auch, weil sie so sanft und mitfühlend berichtet und ihre Appelle an die Hilfsbereitschaft der Allgemeinheit so aufrichtig betroffen wirken.
Oft geht es um verwirrte alte Leute, die im Stadtpark dabei beobachtet werden, wie sie Enten mit Fetzchen von Papiertaschentüchern füttern, manchmal auch um jugendliche Ausreißer, deren Eltern krank vor Sorge sind, oder um Obdachlose im Krankenhaus, deren Angehörige gesucht werden.
Diesmal ist ein Mädchen in der vergangenen Nacht nicht nach Hause gekommen und tags darauf auch nicht in der Schule aufgetaucht. Die Moderatorin sagt, dass es sich um die sechzehnjährige Anne Martenstein handle, die Zeugen zuletzt im Lokal »Jensen« gesehen hätten. Um circa 23.15 Uhr
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