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Das Familientreffen

Das Familientreffen

Titel: Das Familientreffen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Enright
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sein.
     
    »Ach, hallo«, sagte sie, als sie mir die Haustür öffnete. Das war an dem Tag, an dem ich von der Sache mit Liam erfahren hatte.
    »Hallo, Schatz.« Dasselbe hätte sie auch zur Katze sagen können.
    »Komm rein. Komm rein.« Aber sie bleibt im Eingang stehen und tritt nicht beiseite, um mich einzulassen.
    Natürlich weiß sie, wer ich bin, nur mein Name ist ihr entfallen. Während sie gedanklich einen Namen nach dem andern abhakt, huschen ihre Augen hin und her.
    »Hallo, Mammy«, sage ich, um ihr einen Hinweis zu geben. Und schiebe mich an ihr vorbei in die Diele.
    Das Haus kennt mich. Immer ist es kleiner, als es sein sollte; die Wände stehen enger beisammen und in einem schärferen Winkel zueinander, als man sie in Erinnerung hat. Das Haus ist immer zu klein.
    Hinter mir öffnet meine Mutter die Tür zum Wohnzimmer.
    »Magst du etwas? Eine Tasse Tee?«
    Aber ich will nicht ins Wohnzimmer gehen. Ich bin kein Gast. Dies ist auch mein Haus. Ich war in ihm, als es wuchs, als das Esszimmer mit der Küche zusammengelegt wurde, als die Küche den hinteren Garten verschluckte. Es ist der Ort, der noch immer die Kulisse für meine Träume bildet.
    Nicht, dass ich jemals wieder hier leben werde. In diesem Haus, das nur aus Anbauten besteht. Selbst das Kabuff neben der Küchentür hat hinten noch eine Tür, sodass man sich, um zum Klo zu gelangen, einen Weg vorbei an Mänteln und dem Staubsauger bahnen muss. Verkaufen ließe sich das Haus nicht, denke ich manchmal, höchstens als Baugrundstück. Alles einebnen und wieder von vorn beginnen.
    Die Küche riecht noch genauso wie früher – der Geruch, ganz schwach und vom frischen primelgelben Anstrich überdeckt, trifft mich trotzdem in seiner ganzen Widerlichkeit an der Schädelbasis. Schränke voll alter Laken; ein verkochter und staubiger Mief vom Isoliermantel des Heißwasserboilers; der Sessel, in dem mein Vater immer saß, die Armlehnen glänzend und kalt von vielen Jahren vergeudeter Lebenszeit. Ich muss würgen. Dann rieche ich ihn nicht mehr. Er ist einfach da, unser Geruch.
    Ich gehe zur hinteren Küchentheke und hebe den Wasserkocher hoch, aber als ich ihn füllen will, verfängt sich mein Ärmelaufschlag am Wasserhahn, und der Ärmel füllt sich mit Wasser. Ich schüttle erst die Hand, dann den Arm, und als der Kessel gefüllt und eingesteckt ist, ziehe ich meinen Mantel aus, stülpe den nassen Ärmel nach außen und schwenke ihn heftig hin und her.
    Meine Mutter betrachtet die seltsame Szene, die sie an etwas zu erinnern scheint. Dann tritt sie zur nächsten Arbeitsfläche, wo auf einer Untertasse ihre Tabletten versammelt sind. Geistesabwesend legt sie sich eine nach der anderen auf die schlaffe Zunge. Sie hebt das Kinn und schluckt sie trocken hinunter, während ich mir mit der Hand den nassen Arm abreibe und mir anschließend mit der feuchten Hand durchs Haar streiche.
    Eine letzte grüne Kapsel verschwindet in ihrem Mund, und sie erstarrt, macht eine angestrengte Schluckbewegung. Einen Moment lang schaut sie aus dem Fenster. Dann dreht sie sich achtlos zu mir um.
    »Wie geht’s dir, Schatz?«
    »Veronica!«, möchte ich sie anschreien. »Du hast mir den Namen Veronica gegeben!«
    Wenn sie doch nur nicht so unsichtbar wäre, denke ich. Dann könnte ich sie einfangen und ihr die Wahrheit ins Gesicht schreien, ihr die Schwere dessen, was sie getan hat, ins Bewusstsein rufen. Aber sie bleibt nebelhaft, ungreifbar, zu sehr geliebt.
    Ich bin gekommen, um ihr zu sagen, dass man Liam gefunden hat.
    »Geht’s dir gut?«
    »Ach Mammy.«
    Zum letzten Mal geweint habe ich in dieser Küche, als ich siebzehn Jahre alt war, eigentlich zu alt zum Weinen, wenn vielleicht auch nicht in unserer Familie, in der jeder in jedem Alter zu sein scheint, alle immer zugleich. Mit meinem nassen Unterarm wische ich über den Tisch aus Kiefernholz mit seinem harten Plastikglanz. Ich wende ihr mein Gesicht zu und setze eine passende Miene auf, um die rituellen Worte zu sprechen (wie ich merke, mit einer gewissen Schadenfreude), doch plötzlich ruft sie: »Veronica!«, und geht – rennt fast – zum Kessel. Während die Wasserblasen immer heftiger gegen das Chrom anbrodeln, legt sie die Hand auf den Bakelitgriff, hebt den noch immer eingesteckten Kocher hoch und schüttet etwas Wasser in die Kanne, um sie vorzuwärmen.
    Er hat sie nicht einmal gemocht.
    Drüben bei der Tür ist eine Scharte in der Wand. Die war entstanden, als Liam ein Messer nach unserer Mutter warf, und

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