Das fehlende Glied in der Kette
nur nach Ihren Neigungen entscheiden könnten?»
«Das hängt von mancherlei ab.»
«Haben Sie kein geheimes Steckenpferd?», fragte sie. «Gibt es denn nichts, das Sie fasziniert? Eigentlich hat doch jeder eine geheime Leidenschaft – meist etwas völlig Verrücktes.»
«Sie werden mich auslachen.»
Sie lächelte. «Vielleicht.»
«Tja, also, ich wollte heimlich schon immer ein Detektiv sein.»
«Ein echter Detektiv – bei Scotland Yard? Oder mehr so wie Sherlock Holmes?»
«Oh, am liebsten wie Sherlock Holmes. Aber ganz im Ernst – das fasziniert mich ungemein. Ich habe einmal in Belgien einen Mann kennen gelernt, einen sehr berühmten Detektiv, und der hat mich richtiggehend angesteckt. Er war ein bewundernswerter kleiner Bursche. Er behauptete immer, gute Detektivarbeit bestünde einzig und allein in einer methodischen Vorgehensweise. Darauf basiert auch mein System – obwohl ich es natürlich weiter entwickelt habe. Er war ein drolliger kleiner Mann, ein richtiger Dandy, aber unglaublich klug.»
«Schätze auch eine gute Detektivgeschichte», bemerkte Miss Howard. «Aber es wird auch eine Menge Mist verzapft. Die Entlarvung des Verbrechers im letzten Kapitel. Alle sind total überrascht. Bei einem echten Verbrechen – da würde man sofort Bescheid wissen.»
«Es gibt aber eine große Anzahl unaufgeklärter Verbrechen», widersprach ich.
«Ich meine ja nicht die Polizei, sondern die Menschen, die direkt davon betroffen sind. Die Familie. Die könnte man nicht an der Nase herumführen, die wüsste Bescheid.»
«Dann glauben Sie wohl», sagte ich belustigt, «dass Sie sofort den Mörder entlarven würden, falls Sie jemals in ein Verbrechen verwickelt würden, zum Beispiel in einen Mord, ja?»
«Selbstverständlich. Könnte es vielleicht einem Rudel von Rechtsanwälten nicht beweisen. Bin mir ganz sicher, dass ich Bescheid wüsste. Würde es in meinen Fingerspitzen fühlen, wenn der Kerl in meine Nähe käme.»
«Vielleicht ist es eine Sie», wandte ich ein.
«Möglich. Aber Mord ist ein Gewaltverbrechen. Riecht für mich mehr nach einem Mann.»
«Aber nicht Giftmord.» Mrs. Cavendishs klare Stimme erschreckte mich. «Dr. Bauerstein sagte erst gestern, es gäbe wahrscheinlich unzählige unentdeckte Giftmorde, weil die Ärzte sich bei den unbekannteren Giften kaum auskennen.»
«Aber Mary, was ist das denn für eine gruselige Unterhaltung!», rief Mrs. Inglethorp. «Da überläuft es mich ja kalt. Oh, da ist ja Cynthia!»
Ein Mädchen in Uniform kam leichtfüßig über den Rasen gelaufen.
«Cynthia, du bist heute aber spät dran. Darf ich dir Mr. Hastings vorstellen – Mr. Hastings – Miss Murdoch.»
Cynthia Murdoch war ein frisches junges Mädchen, das vor Lebenslust und Energie förmlich strotzte.
Sie warf ihre Uniformmütze zur Seite und ich bewunderte den Schwung ihrer kastanienbraunen Locken und ihre kleinen weißen Hände, die sie nach ihrer Tasse Tee ausstreckte. Mit dunklen Augen und Wimpern wäre sie eine Schönheit gewesen. Sie ließ sich neben John auf die Erde fallen und lächelte zu mir hoch, als ich ihr die Platte mit den Sandwiches reichte.
«Setzen Sie sich doch auch auf den Rasen, hier ist es viel, viel schöner.»
Gehorsam ließ ich mich neben ihr auf dem Boden nieder.
«Sie arbeiten in Tadminster, nicht wahr, Miss Murdoch?»
Sie nickte. «Die reinste Strafarbeit.»
«Sind sie denn dort so unfreundlich zu Ihnen?», fragte ich lächelnd.
«Das sollen die nur wagen!», rief Cynthia empört.
«Ich habe eine Kusine, die als Krankenschwester arbeitet», bemerkte ich. «Sie hat schreckliche Angst vor den Oberschwestern.»
«Das überrascht mich nicht. Oberschwestern sind einfach – ach, Mr. Hastings, Oberschwestern sind einfach fürchterlich! Sie machen sich ja gar keine Vorstellung davon, wie fürchterlich sie sind. Aber ich bin keine Krankenschwester, dem Himmel sei Dank, ich arbeite in der Apotheke.»
«Na, wie viele Menschen haben Sie denn schon vergiftet?» Ich lächelte.
Cynthia lächelte ebenfalls.
«Oh, hunderte», sagte sie.
«Cynthia», rief Mrs. Inglethorp. «Könntest du wohl ein paar Briefe für mich schreiben?»
«Aber gern, Tante Emily.»
Sie sprang sofort auf, und irgendwas in ihrem Verhalten erinnerte mich daran, dass sie von Mrs. Inglethorps Großmut abhängig war und dass Mrs. Inglethorp sie das bei aller sonstigen Freundlichkeit nie vergessen ließ.
Meine Gastgeberin wandte sich nun mir zu. «John wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Um halb acht
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