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Das Fest Der Fliegen

Das Fest Der Fliegen

Titel: Das Fest Der Fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gert Heidenreich
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Venerandus hatte ihm die Hände auf die feuchten Locken gelegt und sich gezwungen, das weiche Haar nicht zu streicheln. Er roch den Alkohol und den Schweiß. Der Kopf des Weinenden stieß mit jeder Welle des Schmerzes nach vorn, und der Großabt spürte, dass ihm Domingos Stirn gegen den Schoß drückte. Er ließ den Zurückgekehrten weinen. Irgendwann nach den Tränen würden die Wörter kommen, dann das Gespräch, dann das Verhör und dann der Prozess. »Beherrsche dich«, sagte er und schob den Kopf Domingos von sich weg. »Wir beten zusammen die Matutin. Du bist der heimgekehrte Sohn. Was immer du getan hast. Du bist der Heimgekehrte. Ich bin der Vater.« Als sie das Haus betraten, saßen an der mittleren Bank im Refektorium Giovanni Salviati, Gian Pietro Carafa und Philippe de la Chambre, bereit zur Vigil. Vornübergebeugt, im Schatten ihrer Kapuzen. Die Gesichter schwer von Schlaf. Sie blickten nicht auf. »Herr, öffne meine Lippen, damit mein Mund Dein Lob verkünde«, sagte der Großabt. »Unser Bruder Domingo, den wir verloren glaubten, ist zurückgekehrt.« Die drei Brüder begriffen langsam, was sie hörten. Als erster hob Carafa den Kopf, sprang auf und schrie Domingo an: »Weißt du, dass Ranuccio für deinen Fehler Sünden auf sich laden musste? Weißt du, dass er an seinen Sünden gestorben ist? Und die allergrößte Sünde auf sich geladen hat? Du bist daran schuld, dass er sich umgebracht hat!« Carafa neigte dazu, aufbrausend und gewalttätig zu sein, seine flämische Herkunft und sein bürgerlicher Name Lieven van Alcke waren nur dem Großabt bekannt. Er hatte den Neunundvierzigjährigen zur Ermordung des Dresdener Rentners und Marienhassers Klaus Günther erfolgreich eingesetzt, auf den die Inquisition wegen des misslungenen Anschlags auf den Marienaltar von Jan van Eyck in der Gemäldegalerie Alter Meister aufmerksam geworden war. Der Flame war, ähnlich wie Konrad von Marburg, ein zuverlässiger Exekutor. Manchmal musste sein Eifer gebremst werden. »Salve, Regina!« Petrus Venerandus erinnerte mit erhobener Stimme an das Gebet und Carafa setzte sich wieder. Sie starrten auf Domingo, der nicht wagte, zu antworten. Er war zu schwach und zu betrunken, um sich zu verteidigen, wollte nur wieder aufgenommen und von seinen Fehlern losgesprochen werden. »Philippe«, sagte der Großabt zu de la Chambre. »Bring ihm ein Gewand, er soll mit uns beten.« Als sie gemeinsam am Tisch saßen, sprach Petrus vor: »Salve, Regina, mater misericordiae; vita, dulcedo et spes nostra, salve. Ad te clamamus, exsules filii Hevae. Ad te suspiramus, gementes et flentes in hac lacrimarum valle.« Domingo betete mit seinen Brüdern zugleich: »Sei gegrüßt, o Königin, Mutter der Barmherzigkeit; unser Leben, unsere Wonne und unsere Hoffnung, sei gegrüßt! Zu dir rufen wir verbannte Kinder Evas; zu dir seufzen wir trauernd und weinend in diesem Tal der Tränen.« Bevor Petrus Venerandus den Vers »Eia ergo, advocata nostra, illos tuos misericordes oculos« anschließen konnte, nach dem die Brüder bitten sollten: »Wohlan denn, unsere
    Fürsprecherin, wende deine barmherzigen Augen uns zu«,
knallte Domingos Schädel auf die Tischplatte. Als er »Tal
der Tränen« gesagt hatte, war ihm plötzlich schwindlig geworden. Er verlor das Bewusstsein und kippte, bevor sein
Nachbar Salviati ihn halten konnte, vornüber.
Der Großabt stand auf und sah auf ihn hinab. »O clemens,
    o pia, o dulcis Virgo Maria«, sagte er leise. Carafa, Salviati und de la Chambre murmelten »O gütige, o milde, o süße Jungfrau Maria.« Die Matutin war auf diese Weise immerhin zu Teilen begangen worden. »Bringt ihn in den Keller«, sagte Petrus Venerandus. »Wird er büßen?«, fragte Carafa. Petrus sah ihn lange stumm an. »Müssen wir nicht alle büßen? Unsere Aufgabe ist es, die Gotteslästerer büßen zu lassen für ihr Verbrechen gegen den Heiligen Geist! Euer Bruder Konrad von Marburg hat mir heute die große Freude mitgeteilt, dass er, gemäß unserem gemeinsamen Urteil nach sorgfältiger Prüfung des Falles und gehorsam der im Gebet erteilten Weisung unserer Heiligen Jungfrau Maria, den Diener Satans, Prof. Dr. Peter Abraham Darton, seinem inneren Scheiterhaufen überantwortet hat. Dieser abscheuliche Ketzer wird das Herz unserer Muttergottes künftig nicht mehr bluten lassen.« Philippe de la Chambre hob die Hände und spendete der Tat Beifall. Überrascht fiel Gian Pietro Carafa ein, Salviati erinnerte sich seiner akademischen

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