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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Alter seines Sohnes lesen.
    Typisch Mann, dachte Elizabeth, erst vergisst er sein Kind zu erwähnen, dann erinnert er sich nicht einmal an das Geburtsjahr. Richard hat auch nie gewusst, wie alt Michael war, meistens musste sie seine Antwort auf diese Frage um ein Jahr nach unten oder oben korrigieren.
    »Elf«, sagte Paul schließlich.
    »Elf! Ein schönes Alter. Wo ist er jetzt? In der Schule?«
    »In der Schule?«, wiederholte er fragend, als sei das eine mehr als sonderbare Idee. »Nein, hier.«
    »Hier im Haus?« Elizabeth hatte keine Kinderstimme, nicht einmal irgendwelche Geräusche gehört. »Sie meinen oben, in seinem Zimmer?«
    »Gewissermaßen, ja«, sagte er, blickte an ihr vorbei und zeigte ein sanftes Lächeln, als amüsiere ihn ihre Irritation.
    »Warum kommt er nicht herunter? Wollen Sie ihn mir nicht vorstellen?« Er schien sie nicht gehört zu haben, obgleich er direkt vor ihr stand. »Wollen Sie ihn mir nicht vorstellen?«, wiederholte sie.
    »Nein, er ist sehr schüchtern, fast scheu, und wenn Fremde im Haus sind, versteckt er sich gern.«
    »Wie schade«, antwortete sie enttäuscht.
    »Vielleicht kommt er noch von selbst. Manchmal taucht er ganz überraschend auf.« Paul schenkte ihnen Tee ein, roch an seiner Tasse und probierte einen Schluck.
    »Ich versteh zwar nicht genau, was Sie meinen, aber egal«, sagte sie etwas unwirsch. »Ich bin gekommen, weil wir morgen zurück nach Amerika fliegen, und ich wollte die Stadt nicht verlassen, ohne Sie noch einmal zu sehen. Ich möchte mich, auch im Namen meines Mannes, bei Ihnen bedanken und entschuldigen.«
    »Wofür?«
    »Ich habe Sie, als wir bei Victor Tang waren, sehr beschimpft. Ich dachte, Sie hätten mich verraten, und fühlte mich im Stich gelassen. Das tut mir sehr leid.«
    »Das muss es nicht. Es war eine äußerst unangenehme Situation für uns beide, und ich hätte an Ihrer Stelle genauso reagiert.«
    »Außerdem sind mein Mann und ich Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Hätten Sie und Ihr Freund sich mit den offiziellen Ergebnissen der Ermittlungen zufriedengegeben, würden wir immer noch Geschäfte mit dem Mörder unseres Sohnes machen.«
    Paul waren ihre Worte ganz offensichtlich unangenehm. Er trank noch einen Schluck Tee und schaute über ihren Kopf hinweg aus dem Fenster. »Was wird jetzt aus Ihrem Joint Venture?«, fragte er, als wolle er schnell das Thema wechseln.
    »Das wissen wir noch nicht. Mein Mann möchte unsere Anteile so schnell wie möglich verkaufen.«
    Paul kehrte zu seiner Arbeit in der Küche zurück. Auf dem Tresen standen mehrere Schüsselchen mit geschnittenen Frühlingszwiebeln, Knoblauch, Bambussprossen und allerlei Gewürze, die sie nicht kannte. Er nahm ein kleineres Messer und würfelte den Ingwer, er schien eine größere Gesellschaft zu erwarten.
    »Ich möchte Sie nicht mehr lange aufhalten«, sagte sie und leerte ihre Tasse Tee. »Aber zwei Fragen beschäftigen mich noch: Was ist mit dem Mann geschehen, der den Mord angeblich begangen hatte?«
    »Er ist wieder frei, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
    »Und die chinesische Freundin meines Sohnes, wie hieß sie noch?«
    »Anyi.«
    »Anyi, richtig. Wird sie verhaftet?«
    »Das weiß ich nicht. Warum sollte sie?«
    »Wegen Beihilfe zum Mord natürlich. Mein Mann sagt, Tang kann nur durch sie von Michaels geheimen Verhandlungen erfahren haben. Sie war mit Michael in Shanghai und Peking. Sie wusste von den Plänen mit Wang Ming.«
    »Das sagt Ihr Mann?«
    »Ja, warum überrascht Sie das so? Er ist fest davon überzeugt. Woher sollte es Tang sonst wissen?«
    »Ich habe keine Ahnung«, sagte Paul zögernd.
    Er war wieder so ernst geworden, wie sie ihn kannte, und wich ihr aus, das spürte sie.
    »Haben Sie eine andere Idee?«
    Paul schüttelte heftig den Kopf, aber sie hatte das Gefühl, dass er etwas verschwieg. »Nein. Ich weiß ja nicht einmal, wer alles in die Pläne Ihres Sohnes eingeweiht war.«
    »Wir sind uns auch nicht ganz sicher, aber wir glauben, sie war die Einzige. Abgesehen von meinem Mann natürlich.«
    Er drehte sich weg und rieb sich die Augen, die Zwiebeln mussten ihn gereizt haben.
    »Was ist mit Ihnen? Herr Leibovitz, Sie haben mir vor ein paar Tagen gesagt, dass mein Sohn ermordet worden ist. Was kann jetzt so schlimm sein, dass Sie es mir nicht sagen wollen?«
    Er wandte ihr noch immer den Rücken zu, die Hände vor dem Gesicht.
    »Sie verstehen, dass mich das natürlich interessiert«, fuhr sie fort. »Denn wenn Tang erst nach

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