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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Staatssicherheit sollte niemand in die Quere kommen. Aber noch wichtiger ist: An Tang wird ein Exempel statuiert. Du kennst doch das alte chinesische Sprichwort: ›Töte ein Huhn, um den Affen Angst zu machen.‹ Tang und seine Leute sind das Huhn.«
    »Und wer sind die Affen?«
    »Die vielen tausend großen und kleinen Tangs, die überall im Land sitzen, die machen, was sie wollen, und sich denken: ›Die Berge sind hoch, und der Kaiser ist weit weg‹. Eine sehr schöne Weisheit aus der Zeit des Konfuzius übrigens.«
    »Du meinst, ab und zu muss der Kaiser zeigen, dass er lange Arme hat?«
    »Ganz genau. Warte mal ab, ich bin mir sicher, wir werden in den nächsten Tagen viel über diesen Fall lesen, hören und sehen. Zwei Teams von CCTV und mehrere Reporter von Xinhua waren heute Nachmittag schon hier, China Daily, China Youth Daily, Peking News, Shanghai Daily, alle großen Tageszeitungen werden ausführlich berichten. Peking kommt diese Geschichte sehr gelegen. Sie passt in die derzeitige Anti-Korruptionskampagne und ist eine gute Gelegenheit zu zeigen, dass die Regierung hart durchgreift. Stell dir vor, sie haben nicht nur Tang verhaftet, sondern die ganze Geschäftsführung seines Firmenkonglomerats. Lo und zahlreiche Kollegen im Präsidium sind heute vom Dienst suspendiert worden, ebenso zwei Parteisekretäre, mehrere Abteilungsleiter in der Stadtverwaltung, mit denen Tang viel zu tun hatte, und ein enger Mitarbeiter des Bürgermeisters, und ich verspreche dir, es werden in den nächsten Tagen noch viele folgen. Du weißt, wie das bei uns mit den politischen Kampagnen und der Propaganda funktioniert. Die Säuberungsaktionen tragen heute andere Namen als früher, aber am Prinzip hat sich nicht so furchtbar viel verändert.«
    »Und warum«, fragte Paul, »haben sie mich verschleppt?«
    »Zunächst mal war es eine Art Sicherheitsverwahrung. Sie wollten sicher gehen, dass Tang dir nichts tut.«
    »In dem Fall hätten sie mich bitten sollen, ihnen zu folgen. Warum lassen sie mich fast zwei Tage in diesem Keller sitzen und verhören mich wie einen Gefangenen?«
    »Aus demselben Grund, aus dem sie mich eine Nacht lang verhört haben, selbst nachdem ich ihnen unser ganzes Material gegeben hatte und wir zusammen die aufgezeichneten Gespräche gehört hatten. Weil sie sicher gehen wollten, dass wir die Wahrheit sagen und dies nicht ein Trick oder einer der vielen Winkelzüge Tangs ist. Weil sie uns misstrauten. Weil hier jeder jedem misstraut. Immer.«

XXXI
    Die Luft war angenehm warm, aber nicht so heiß, dass Elizabeth Owen schwitzte. Der tiefblaue Himmel über der Stadt erinnerte sie an die herrlich kalten, klaren Wintertage in Milwaukee, selbst die Dunstglocke, die sonst jeden Tag wie ein dreckiger brauner Nebel über den Hochhäusern und dem Hafen gelegen hatte, war verschwunden. Was das Wetter betraf, war dies der erste schöne Tag, seitdem sie in Hongkong waren.
    Auch das Meer hatte eine andere Farbe bekommen, hier, in der Nähe des Hafens von Yung Shue Wan, leuchtete es im Schein der Sonne in einem hellen Türkis, wie sie es von den Bahamas kannte. Elizabeth war froh, dass sie sich auf den Weg zu Paul Leibovitz gemacht hatte, und bedauerte nur, dass ihr Mann sie nicht begleitete. Weshalb hatte sich Richard so sehr gegen diese Fahrt gewehrt? Es hatte im Hotel eine unglaubliche Szene gegeben, er hatte sich aufgeregt, geschimpft, sie sogar gewarnt, sie dürfe jetzt ja nicht alles glauben, was Leibovitz ihr erzähle. Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete, bisher hatte Paul mit all seinen Vermutungen und Behauptungen richtig gelegen. Richard benahm sich, als wolle sie einen Liebhaber treffen, er konnte doch nicht ernsthaft eifersüchtig auf Paul sein. Manchmal überkam sie der Eindruck, er hatte Angst vor diesem Mann, aber ihre entsprechenden Fragen brachten Richard erst recht in Rage.
    Nach einer guten halben Stunde dockte das Schiff an einem Fähranleger an. Sie verließ als eine der Letzten das schaukelnde Boot, die Gangway wackelte gefährlich, ein Matrose bot ihr seine Hand an, aber sie hielt sich lieber am Geländer fest.
    An was für einem seltsamen Ort war sie gelandet? Es gab keine Wolkenkratzer, nur flache unscheinbare Häuser, keine Autos, keine Straßen. In der Bucht dümpelten ein paar Fischerboote, es stank nach Meer, und hinter einem Hügel ragten vier Schornsteine in die Luft, aus denen weißer Rauch quoll. Elizabeth zog den Zettel aus ihrer Tasche, auf den sie heute Morgen hastig die

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