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Das Flüstern der Schatten

Das Flüstern der Schatten

Titel: Das Flüstern der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan-Philipp Sendker
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Unterzeichnung der Verträge davon erfahren hätte, wäre Michael sicher noch am Leben.«
    »So dürfen Sie nicht denken«, rief er und drehte sich schnell wieder zu ihr.
    »Warum nicht?«
    »Weil es nichts mehr ändert«, herrschte er sie an. »Weil kein Wenn auf dieser Welt Michael zurückbringt.«
    »Das weiß ich doch«, stammelte sie, überrascht von seinem Ausbruch. »Ich will doch nur wissen, wer meinen Sohn verraten hat.«
    »Wir kennen jetzt seinen Mörder, genügt das nicht? Die Wahrheit fordert manchmal einen furchtbar hohen Preis, Frau Owen. Sie ist nicht immer zu ertragen, die Wahrheit.«
    »Herr Leibovitz, was ist mit Ihnen? Sie weinen ja.«
    »Die Zwiebeln, Frau Owen, die Zwiebeln.«
     
    Paul Leibovitz war ein sonderbarer Mensch, jede Begegnung mit ihm bestätigte sie in dieser Meinung, aber sie fühlte sich auf eine eigenartige Weise wohl in der Gegenwart dieses Mannes und wäre gern noch ein wenig geblieben, hätte ein bisschen erzählt, von Michaels Kindheit und Jugend, von ihrer üppigen Rosenzucht, die ihm gefallen würde, vom Haus in Milwaukee, in dem er selbstverständlich jederzeit willkommen war. Aber Paul hatte ihr schon am Telefon zu verstehen gegeben, dass er nicht viel Zeit hatte, weil er zum Abendessen Gäste erwartete und mitten in den Vorbereitungen steckte. Auch jetzt, als sie ihr Gehen andeutete, lud er sie nicht zu einer weiteren Tasse Tee ein, rief nicht nach seinem Sohn, damit der den Gast wenigstens verabschiedete, sondern brachte sie zur Tür, beschrieb ihr noch einmal in umständlichen Sätzen den Weg, nahm sie in den Arm, wünschte ihr alles Gute und einen sicheren Rückflug.
    Sie stieg den Hügel wieder hinunter, dabei fiel ihr zum ersten Mal die wild wuchernde Natur auf, durch die der Pfad sie führte. Die Farne und Gräser links und rechts waren meterhoch, viele der Blätter an den Büschen und Bäumen fast so groß wie sie selbst, der Weg an vielen Stellen überwachsen, als wäre das Gestrüpp kurz davor, ihn sich zurückzuerobern. Schlingpflanzen hatten sich um Baumstämme und Äste über ihr gewickelt, als wollten sie diese fressen, und für einen Moment hatte sie Angst, sie könnte ihr nächstes Opfer sein. Sie stellte sich vor, wie sich die Zweige an ihr hochrankten, in Sekundenschnelle größer, kräftiger und dicker wurden, sie einwickelten und sich immer festerzogen, bis sie sie mit Haut und Haaren verschlungen hatten. Ein ekeliger, alberner Gedanke, sie wusste es, und trotzdem war ihr unheimlich zumute. Sie beschleunigte ihren Gang und wäre am liebsten den Berg hinunter bis ins Dorf gerannt.
    Alles hier war ihr fremd, die Menschen, das Essen, der Krach, der Dreck, ja selbst die Natur in ihrer wuchernden Zügellosigkeit. Sie konnte es kaum abwarten, endlich wieder zu Hause zu sein, durch ihren Garten zu gehen, auf der Terrasse zu sitzen und über die Rosenbüsche zu schauen. Es würde nicht leicht werden, da machte sie sich keine Illusionen, sie mussten erst einmal Michaels Beerdigung organisieren, seine Dinge ordnen, sein Zimmer ausräumen, wahrscheinlich würde sie erst dort ganz allmählich begreifen, dass er nicht mehr da war. Bei alldem musste sie einen Weg zurück zu Richard finden. Sie hatte ihm Unrecht getan, er war kein Schwächling. Er war, wie sie alle, überfordert gewesen.
    Ihr gingen noch einmal die vielen Abende, die sie mit Tang verbracht hatten, durch den Kopf, und sie war fassungslos, wie sie sich in einem Menschen so hatten täuschen können. Seltsam, wie gut sich Richard mit ihm verstanden hat. Geradezu unheimlich, wenn sie länger darüber nachdachte, aber das wollte sie nicht. Sie schloss die Augen und versuchte den süßen, schweren Duft ihrer Rosen an einem Sommertag zu riechen, aber es stank nur nach Salz und Wasser. Sie wollte an Richard denken und ihre morgendlichen Frühstücke auf der Terrasse, ihre Runden im Pool, ihre Spaziergänge auf dem Golfplatz. Auch das gelang ihr nicht. Stattdessen tauchten fortwährend Erinnerungen an Tang und Richard vor ihren Augen auf. Wie sie sich am Ende ihres ersten gemeinsamen Abends ständig gegenseitig die Whiskeygläser füllten. Wie sie sich lachend zuprosteten. Wie sie in der Karaokebar zusammen lallend »My Way« grölten. Sie sah diese Bilder, hörte die Musik und den Gesang und verstand kein Wort. War das die Stimme, von der Paul gesprochen hatte? Hoffentlich nicht. In ihrem Fall stiftete sie mehr Verwirrung als Klarheit.
    Elizabeth Owen konnte es kaum abwarten, morgen ins Flugzeug zu steigen.

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